Übertragung aufs Inseli und ein Extrakonzert im KKL: Das Festivalorchester setzt ein doppeltes Zeichen für die Öffnung des Festivals wie für das Jubiläum seiner Freunde.
Urs Mattenberger
So gegensätzlich wurde Lucerne Festival noch nie eröffnet wie in diesem Sommer. Einerseits führt das Lucerne Festival Orchestra unter seinem neuen Chefdirigenten Riccardo Chailly eine langjährige Tradition weiter: Das Eröffnungskonzert im KKL wird am kommenden Freitag live übertragen auf die Grossleinwand im Inseli, wo es sich jeweils Hunderte von Besuchern im lockeren Tenü und zwischen Kerzenständern und Picknickauslagen gemütlich machen.
Für die weltumarmende Grossbesetzung von Gustav Mahlers achter «Sinfonie der Tausend», bei der zum Riesenorchester Chöre und acht Gesangssolisten hinzukommen, bietet der freie Himmel sogar noch mehr Raum als der mit Lichtern besternte Konzertsaal. Die Open-Air-Übertragung auf dem Inseli wurde mit alledem zum Symbol für die Öffnung des Festivals hin zu einem breiten Publikum, die auch dieses Jahr neue Formate wie die 40min-Gratiskonzerte und erstmals eine allabendliche Lounge im KKL-Foyer beinhaltet. Und zum Erlebnistag mit sechs Dirigentinnen zum Festivalmotto «Primadonna» gibt es sechs Konzerte zum Einheitspreis von 50 Franken (vgl. Kästchen).
Das ist die eine Seite. Auf der anderen gibt es zwei Tage nach dem Eröffnungskonzert das Festival-Orchester unter Riccardo Chailly ein drittes Konzert, das man in den Festivalführern vergeblich sucht. Und gibt mit Schostakowitschs Jazz-Suite Nr. 2 einen Fingerzeig, in welche Repertoire-Bereiche sich das Orchester unter seiner Leitung entwickeln könnte.
Möglich macht das Sonderkonzert das 50-jährige Bestehen der Freunde von Lucerne Festival. «Mit dem Konzert feiern wir das 50-Jahr-Jubiläum der Freunde-Vereinigung», erklärt Hubert Achermann, Präsident des Stiftungsrats Lucerne Festival und Freunde Lucerne Festival. «Zutritt haben die Freunde selber, und jeder von ihnen konnte seinerseits zwei persönliche Freunde einladen.»
Finanziert wird der Anlass durch eine Spende aus dem Kreis der Freunde: «Aus dem Nachlass eines verstorbenen Förderers wurden uns die notwendigen Mittel zur Verfügung gestellt. Ohne diesen sehr grosszügigen Beitrag hätten wir das nicht durchführen können», sagt Achermann.
Wie passt ein solches Konzert unter Ausschluss der Öffentlichkeit zum offenen Image, das das Festival mit seiner Öffnung zu niederschwelligen Konzertformaten anstrebt? «Das ist überhaupt kein Widerspruch», betont Achermann und stellt richtig, dass es sich nicht um einen geschlossenen Anlass handelt: «Die Freunde sind kein abgeschotteter Zirkel, sondern selber Teil der Öffentlichkeit. Jeder kann Mitglied werden. Es sind einfach Menschen, die klassische Musik lieben und mit einem finanziellen Beitrag Lucerne Festival unterstützen.»
So setzt sich der Freundeskreis keineswegs aus geldkräftigen Unternehmern zusammen. Diese seien viel mehr, so Achermann, im Sponsoringbereich tätig. Zur Vereinigung der «Freunde» gehört man, wenn man den Minimalbetrag von 1500 Franken beisteuert (für ein Vorbestellungsrecht von jeweils zwei Karten pro Konzert bezahlt man 2500 Franken). Bei den «Jungen Freunden» (bis 39 Jahre; der jüngste ist aktuell 18 Jahre alt) sind es sogar bloss 200 Franken. Diese Beträge erlauben es, sich Konzertkarten vor dem Beginn des Vorverkaufs zu sichern. Wer mehr einbezahlt, bekommt ein Vorkaufsrecht für weitere Karten.
Angesichts des Budgets von 24 Millionen Franken und 9,3 Millionen an Sponsorenbeiträgen, die Lucerne Festival alljährlich erhält, scheinen das bescheidene Beträge. Aber sie summieren sich inzwischen zu einer tragenden finanziellen Säule des praktisch nicht subventionierten Festivals, so Achermann.
Zum einen gibt es durchaus Mitglieder, die wesentlich höhere Beiträge zahlen. Wer sich etwa in der Gold-Kategorie mit jährlich 25 000 Franken engagieren will, kann wählen zwischen der Förderung des Lucerne Festival Orchestra, der Lucerne Festival Academy oder von Lucerne Festival Young.
Die «Mäzene» unterstützen das Festival in der Regel mit Beiträgen von 100 000 Franken. «Aber der Grossteil der Mitglieder beschränkt sich auf Beträge zwischen 1750 und 12 000 Franken», erläutert Achermann: «Weil wir mittlerweile knapp 500 Freunde und etwa 50 Junge Freunde zählen, ergibt das pro Jahr zusammen mit unserem Fundraising-Anlass in New York eine Summe von bis zu 2 Millionen Franken. Das macht doch beachtliche 8 Prozent unseres Budgets aus», zeigt Achermann auf.
Möglich machte diesen Erfolg in den letzten Jahren die Professionalisierung und Internationalisierung der Freunde-Vereinigung in einer eigenen Stiftung, deren Zweck die Förderung des Lucerne Festival ist. «Seit 2012 haben wir zu diesem Zweck eine vollamtliche Geschäftsführerin, Valentina Rota, die mit ihrem Team erfolgreich die Weiterentwicklung des Freunde-Kreises sicherstellt und die Freunde individuell betreut.» Angefangen hatte alles einst ziemlich bescheiden: «Nach der Gründung im Jahr 1966 waren die Freunde ein überschaubarer Kreis von Musikliebhabern», erinnert sich Achermann: «Man konnte zwar Künstler wie Igor Oistrach oder Martha Argerich zu sich nach Hause einladen. Aber selbst wenn man dafür das halbe Haus leerräumte, hatten nur etwa 30 bis 40 Personen Platz», erzählt er.
Ist durch das Wachstum des Freunde-Kreises mit dieser familiären Atmosphäre nicht auch eine Attraktivität verloren gegangen? «Nein», ist Achermann überzeugt, «zur Professionalisierung gehört auch, dass wir heute mehr gemeinsame Aktivitäten organisieren, bei denen sich die Freunde austauschen können. Trotz der wachsenden Zahl ist dadurch der Kontakt zwischen ihnen und zum Festival intensiver geworden.»
Für die Freunde organisiert die Stiftung Freunde auch Kultur- und Musikreisen, meist rund um die Tourneen des Lucerne Festival Orchestra, dann gemeinsame Apéros, Einführungen und Nachtessen vor oder nach Konzerten. Da steht allerdings nicht nur musikalische Fachsimpelei im Zentrum: «Ich denke, die Mitglieder schätzen es, über das gemeinsame Interesse an der Musik Menschen kennen zu lernen, die ihnen mit ihren unterschiedlichen Berufen – Ärzte, Anwälte, Lehrer und Musiker – Einblicke in ganz andere Erfahrungswelten geben, ähnlich wie man das von Vereinen kennt», sagt der Präsident des Stiftungsrats Lucerne Festival.
Wie das Geld der Freunde eingesetzt wird, entscheidet der Stiftungsrat. Nimmt er damit Einfluss auf die Programmierung? Fördern die Freunde eher konservative Repräsentationsanlässe und stellen sich damit quer zu Haefligers Innovationskurs? «Nein, das ist ein falsches Klischee», meint Achermann, «ich schätze, dass etwa zwei Drittel zwar persönlich eher traditionelle Musik bevorzugen, aber auch offen sind für andere Inhalte von Lucerne Festival wie der Academy oder der Moderne.»
«Beliebt sind etwa die Moderne-Veranstaltungen und -Einführungen der Academy – ein betagter Freund aus Genf etwa machte ihretwegen jahrelang regelmässig Ferien in Luzern», erzählt Achermann. Die Erweiterung des Freunde-Kreises geht heute aber über die Schweiz hinaus – bis hin zu Mitgliedern aus England, Israel, Spanien, Japan oder den USA. Die Mitglieder in diesen Ländern sind einerseits «Botschafter, die Lucerne Festival noch bekannter machen können», so Achermann. Aber auch sie leisten wichtige finanzielle Beiträge: «Beim Fundraising-Anlass, den wir einmal pro Jahr mit Musikern der Academy in den USA durchführen, kommen jeweils rund 300 000 US-Dollar zusammen.»
International gibt sich im Namen auch die neue Lounge im KKL-Foyer. In diesem «Interval» können sich Konzertbesucher jeden Abend nach dem Konzert untereinander und mit spontan auftretenden Künstlern treffen oder einfach ein Bier trinken. Die beiden Seiten des Festivals kommen da anschaulich zusammen. Auf der einen Seite die traditionelle, für die Freunde abgetrennte VIP-Lounge, auf der anderen das «Interval» für alle übrigen Konzertbesucher. Denn Freunde von Lucerne Festival sind im Grunde alle, die dessen Konzerte besuchen.
mat.Lucerne Festival bietet traditionell unter freiem Himmel Veranstaltungen mit freiem Eintritt. Den Anfang macht auch dieses Jahr die Live-Übertragung des Eröffnungskonzerts auf dem Inseli (Freitag, 12. August, 18.30 Uhr). Das von Riccardo Chailly geleitete Lucerne Festival Orchestra bringt mit Chören und acht Gesangssolisten Gustav Mahlers achte Sinfonie zur Aufführung: ein Werk, das mit seiner Monumentalität und seinen magischen Naturbeschwörungen (nach Goethes «Faust») ideal aufs Inseli passt.
Ebenfalls auf dem Inseli gastiert das Festival mit Open-Air-Konzerten bei der «Buvette». Während der Zeit des Festivals treten hier am Donnerstag, 18 Uhr, verschiedene Festival-Künstler auf. Ebenfalls bei der «Buvette» gastieren Weltmusik-Gruppen des Strassenfestivals, das mit einer gemeinsamen Veranstaltung aller Gruppen am Dienstag, 23. August, 17.30, vor dem KKL eröffnet wird. Zum «Primadonna»-Thema treten hier Musikgruppen auf, in denen Frauen eine zentrale Rolle spielen – vom portugiesischen Fado über orientalischen Tanz und Flamenco bis zu den Tanzsounds der Sängerin Nisa aus Mosambik.
Gratiskonzerte mit klassischer Musik gibt es im KKL selber im beliebten Konzertformat «40min». An zehn Terminen treten im Luzerner Saal jeweils um 18.20 Uhr Musiker des Lucerne Festival Orchestra und der Academy auf. Immer mehr wirken hier bei Einführungen und Kostproben prominente Festival-Künstler mit. Dieses Jahr sind es der Trompeter Reinhold Friedrich (16. August), die Sängerin Barbara Hannigan (22. August), die Geigerin Anne-Sophie Mutter (2. September), der Schlagzeuger Martin Grubinger (25. August).
Ganz neu ist die «Interval»-Lounge, die Lucerne Festival erstmals im KKL einrichtet. Die Architekten Iwan Bühler und Andi Scheitlin schaffen dafür im Foyer mit Vorhangelementen eine entspannte Atmosphäre mit 60 Sitzplätzen. Hier kann man sich rund um die Konzerte auf einen Drink treffen, eine Kleinigkeit essen und den Abend ausklingen lassen. Für spontane Auftritte von Festivalkünstlern ist eine Off-Bühne aufgebaut. Das Interval öffnet täglich eine Stunde vor Konzertbeginn oder eine halbe Stunde vor Einführungsbeginn und schliesst um 24 Uhr (Freitag und Samstag um 0.30 Uhr). Der Eintritt ist frei.
mat.Dem Festival-Thema «Primadonna» ist der «Erlebnistag» am Sonntag, 21. August, gewidmet. Er präsentiert fünf der elf Dirigentinnen, die am Festival auftreten (Einheitspreis für alle Konzerte: 50 Franken). Das Spektrum reicht von jungen bis zu arrivierten Dirigentinnen wie der aus Lettland stammenden Mirga Gražinyte-Tyla: Sie hat als Chefdirigentin in Birmingham als erste Frau eine Spitzenposition im klassischen Orchesterbetrieb inne.
Gražinyte-Tyla und Anu Tali leiten das Chamber Orchestra of Europe in Programmen mit Klassikern wie Beethoven («Pastorale»), Chopin (Klavierkonzert Nr. 1) oder Prokofjew. Arabella Steinbacher führt als Geigensolistin die Festival Strings durch Vivaldis «Jahreszeiten». Maria Schneider führt mit einem Ensemble der Festival Academy orchestralen Jazz auf, die Schweizerin Elena Schwarz und die Griechin Konstantia Gourzi dirigieren moderne Musik, unter anderem von der Gastkomponistin Olga Neuwirth.
An einem Panel diskutieren am Erlebnistag Dirigentinnen mit Festivalintendant Michael Haefliger die Frage, wieso Frauen in dieser Männerdomäne noch immer nicht stärker vertreten sind. Dem Frauenthema ist zudem ein Vortrag von Susanne Stähr (über das «Ewigweibliche» in Mahlers achter Sinfonie, 13. August) sowie das NZZ-Podium gewidmet (28. August).
Ganz weiblich besetzt ist dieses Jahr vom Streichquartett bis zu einer Saxofonistin die Reihe der Debut-Konzerte (jeweils 12.15 Uhr in der Lukaskirche oder im Casineum). Und sie wartet mit einem absoluten Novum auf. Erstmals gibt es nämlich zum Einheitspreis von 30 Franken ein Dirigierdebut mit Orchester: Die in Hongkong geborene Britin Elim Chan, die beim London Symphony Orchestra «Discovery Concerts» leitet, dirigiert das Orchester der Lucerne Festival Academy in Bartóks virtuosem Konzert für Orchester (30. August, Luzerner Saal).
Neue Wege geht das Debut der Mezzosopranistin Hagar Sharvit: Ihr Programm kombiniert paarweise Lieder von weiblichen und männlichen Komponisten – und das Publikum darf raten, welches jeweils von einer Frau oder einem Mann komponiert wurde (25. August).
Wer hier falsch tippt, bekommt Nachhilfe vom Spyros-Klaviertrio und vom Kammerensemble der Berliner Philharmonikerinnen. Sie kombinieren Werke von Clara Schumann und Fanny Mendelssohn, die als Komponistinnen bis heute im Schatten ihrer Männer stehen, mit weiteren Werken von Frauen (10. September, 11/16 Uhr, Maihof, Luzern).