Am Sonntag findet der Internationale Tag gegen weibliche Genitalbeschneidung statt. Der Kanton Luzern geht mit gutem Beispiel voran, was die umfassende Betreuung der Betroffenen angeht.
«Frauen sind so, wie sie sind, perfekt. Es gibt kein unreines Geschlecht», sagt Bella Glinski, die sich als Stellenleiterin der Ostschweizer und Liechtensteiner Anlaufstelle gegen Mädchenbeschneidung für Betroffene einsetzt. Was für viele in der Schweiz selbstverständlich ist, müssen sich beschnittene Frauen oft erarbeiten. Dabei hat eine Genitalbeschneidung lebenslange Schmerzen zur Folge: Harnwegsinfektionen, Menstruationsprobleme, Unterleibsschmerzen, Probleme bei der Schwangerschaft und Geburt. «Es ist alles verhärtet und vernarbt», sagt Glinski, die selber aus der betroffenen Bevölkerungsgruppe stammt.
Am Sonntag ist der Internationale Tag gegen weibliche Genitalbeschneidungen. Rund 903 Frauen im Kanton Luzern galten 2018 gemäss einer Schätzung des Bundes als betroffen oder gefährdet von Genitalbeschneidungen, damit steht der Kanton landesweit an siebter Stelle. Die Zahlen steigen durch die erhöhte Migration der letzten Jahre.
Dabei wurden nur Personen eritreischer und somalischer Herkunft erfasst, da diese Bevölkerungsgruppen gemeinsam über 75 Prozent der Betroffenen ausmachen.
Glinski sagt: «Viele Frauen realisieren erst in der Schweiz, dass etwas mit ihnen nicht stimmt.» Denn die meisten der schweizweit über 20’000 mutmasslich betroffenen Mädchen und Frauen wurden bereits in ihrem Heimatland als Kleinkinder beschnitten. Besonders oft betroffen sind Zugezogene aus Eritrea, Somalia, Äthiopien, Sudan und aus Ägypten, wo zwischen 74 und 98 Prozent aller Frauen beschnitten sind. Obwohl dort meist genau wie seit 2012 in der Schweiz Verbote in Kraft sind, werden diese selten durchgesetzt. Es werden seither zwar weniger offensichtliche, aber nicht minder gravierende Beschneidungen gemacht.
Glinski setzt sie sich dafür ein, dass Menschen mit Migrationshintergrund wie sie als Fachpersonen eingesetzt und akzeptiert werden:
«Es ist wichtig, dass jemand aus der Community sagt: ‹Es ist in Ordnung, dass du deine Schmerzen lindern möchtest.›»
Denn viele betroffene, auch jüngere Migrantinnen identifizieren sich nach wie vor mit dem Ritual der Beschneidung. Glinski sagt: «Diese tief verankerte Tradition wegzudenken, ist schwierig.» Ausserdem werden viele betroffene Frauen in der Schweiz von ihren Familien unter Druck gesetzt, ihre eigenen Töchter ebenfalls beschneiden zu lassen.
Denise Schwegler, Projektverantwortliche Prävention Mädchenbeschneidung bei Caritas Schweiz, erklärt, dass die Beschneidung aus unterschiedlichen Gründen und sowohl von christlichen als auch muslimischen Gemeinschaften praktiziert werde. Aus einer Tradition, die älter als die beiden Weltreligionen ist und wohl aus dem ägyptischen Raum stammt, entstand eine soziale Norm. Schwegler sagt: «Die Beschneidung ist ein Ritual, um zur Gemeinschaft dazuzugehören. Beispielsweise kann sie Voraussetzung für eine Heirat sein.»
Ausserdem sei die Genitalbeschneidung ein Versuch, die als bedrohlich betrachtete Sexualität der Frau zu kontrollieren oder ihre Jungfräulichkeit und Treue gegenüber dem Partner sicherzustellen. Die praktizierten Genitalbeschneidungen unterscheiden sich. Meist werden Klitoris und Schamlippen ganz oder teilweise entfernt und/oder die Schamlippen zusammengenäht.
Gemäss der WHO sterben zehn Prozent der betroffenen Frauen an direkten Folgen wie Blutvergiftungen und Blutverlust. Weitere 25 Prozent sterben langfristig an Infektionen wie Aids, hervorgerufen durch unsterile Werkzeuge, oder Komplikationen bei der Geburt. Ausserdem haben viele ein Leben lang Schmerzen.
Für Glinski ist wichtig, dass bei Gesprächen und Behandlungen die betroffenen Frauen vorsichtig an die Thematik herangeführt werden und auch Raum für Fragen besteht. Sie sagt: «Viele betroffene Frauen gehen durch die Hölle.» Um nachträgliche Traumata zu vermeiden, sind gut geschultes Fachpersonal und die Begleitung durch interkulturelle Dolmetschende wichtig. Gerade bei letzteren Angeboten werde aber gespart.
Im Kanton Luzern ist man sich des Bedarfs bewusst. So werden Schulungen mit Fachpersonen im Sozial-, Asyl- und Gesundheitsbereich sowie mit Lehrpersonen durchgeführt. Gemäss Caritas Schweiz ist der Kanton bezüglich der Zusammenarbeit rund um weibliche Genitalbeschneidungen ein Paradeexemplar. Das geht auf die Initiative von Ärztinnen des Kantonsspitals und des Engagements von Elbe, der Fachstelle für Lebensfragen in den Kantonen Luzern, Ob- und Nidwalden, zurück. Letztere arbeitet bei medizinischen Fragen eng mit dem Luzerner Kantonsspital und der Luzerner Frauenarztpraxis Gyn-Zentrum zusammen, bei juristischen Aspekten wird die Caritas Schweiz herbeigezogen.
Lea Ming arbeitet für Elbe und begleitet seit 2019 Betroffene von Genitalbeschneidungen. Im letzten Jahr suchten fünf Frauen bei der Fachstelle um Rat: «Unser Anliegen ist es, eine gesunde und selbstbestimmte Sexualität zu ermöglichen.» Auch Lea Ming ist sich bewusst, dass der Umgang mit Genitalbeschneidungen sehr individuell ist:
«Betroffene sehen sich nicht in jedem Fall als Opfer von sexueller Gewalt. Manchmal fühlen sie sich, gerade weil sie beschnitten sind, als ‹richtige› und ehrbarere Frauen.»
Meist wenden sich betroffene Frauen nicht primär wegen ihrer Beschneidungen an sie. Das Thema kommt beispielsweise zur Sprache, wenn es um bevorstehende Geburten oder Schmerzen beim Geschlechtsverkehr geht. Teilweise sind dann medizinische Eingriffe nötig, mittlerweile sind auch Klitoris-Rekonstruktionen möglich.
Ming lehnt die Genitalbeschneidung entschieden ab. Doch sie sieht gleichzeitig Parallelen zur Intimchirurgie, die in den letzten Jahren auch hierzulande boomt. Diese kosmetischen Eingriffe würden ebenfalls vorgenommen, um gesellschaftlichen Normen und vermeintlichen Erwartungen zu entsprechen, so die Sozialarbeiterin. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts wurde die Genitalbeschneidung in Europa gar als «Heilungsmethode» bei Masturbation, lesbischen Neigungen und Hysterie verwendet.