Ab dieser Woche bewertet die Migros ihre Eigenmarken nach den Kriterien Tierwohl und Umwelt. Greenpeace lobt die Bemühungen – spricht allerdings auch von Greenwashing.
Fleisch schadet der Umwelt mehr als Obst, eine Mango aus Brasilien mehr als ein Apfel aus der Ostschweiz. Mit dieser Binsenweisheit muss man heute niemanden mehr belehren, die Debatte um Nachhaltigkeit und bewusstes Konsumieren ist in der breiten Bevölkerung längst angekommen. Doch wie steht es um andere Produkte wie Joghurt, Kaffee, Schokoladenkekse, Kartoffelchips oder Softgetränke? Wie nachhaltig diese sind, wissen wohl nur die wenigsten genau, es sei denn, sie befassen sich von Berufs wegen mit der Materie.
Die Migros will nun Abhilfe schaffen und ihren Kundinnen und Kunden beim Einkaufen eine Orientierungshilfe bieten. Dafür lanciert die Grossverteilerin diese Woche schweizweit den «M-Check», eine Nachhaltigkeits-Skala, die die Lebensmittel mittels eines Sternen-Systems beurteilt. Die Kriterien: Umwelt und Tierwohl. Die Sternchen sind auf den Verpackungen von zunächst 100 Migros-Eigenmarkenprodukten zu finden, ab Mai/Juni sollen sie sämtliche Migros-Produkte zieren. Laut der Migros machen die Eigenprodukte 80 Prozent des Sortiments aus.
Wie bei Hotelbewertungen steht ein Stern für «schlecht» und fünf Sterne für «sehr gut». Konkret spricht die Migros von «viel Verbesserungspotenzial» und «nachhaltig vorbildlich». Entwickelt wurde das System in Kooperation mit der Fachhochschule der Land-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften sowie Myclimate und der Ökobilanzierungsfirma Treeze. Welche Produkte schneiden also gut ab, welche schlecht? Matthias Wunderlin, der das Departement Marketing des Migros-Genossenschafts-Bundes leitet und das Projekt eng begleitet hat, nennt einige Beispiele.
Die Selection Irish Beef erhält in beiden Kategorien bloss einen Stern. Begründung: Rindfleisch sei nun mal klimaschädlich und hinsichtlich Tierwohl fehle es bei der Produktion an Transparenz. Eingeflogene Rosen aus Kenia erhalten fürs Klima ebenfalls nur einen Stern. Eine gute Bewertung kriegt hingegen die Gurke. Da sie praktisch nur aus Wasser bestehe, sei sie punkto Klima das beste Produkt. Gut schneiden auch Melonen, Kartoffeln sowie Getränke ab.
Doch welches Ziel verfolgt die Migros mit dem Vorhaben genau? Sollen die Konsumenten zu besseren Menschen erzogen werden? Oder geht es um Image und Kundenbindung? Weder noch, betont Marketingleiter Matthias Wunderlin, die Rentabilität sei beispielsweise nie berechnet worden. «Wir wollen das bewusste Konsumieren fördern. Mit dem System schaffen wir Transparenz und Orientierung – die Kaufentscheidung liegt dann immer noch beim Kunden. Jedem sind schliesslich andere Werte wichtig». Die Migros sei überzeugt, ihre Verantwortung wahrnehmen zu müssen. «Wir sind schliesslich fast die Einzigen in der Schweiz, die diese Transparenz über die ganze Wertschöpfungskette herstellen können», sagt Wunderlin.
Der Marketingleiter spricht damit die über 20 Industriebetriebe in der Schweiz und im Ausland an, die zur Migros-Gruppe gehören (M-Industrie) und so den hohen Anteil an Eigenprodukten im Sortiment ermöglichen. Das sind etwa Midor (Guetzli und Glacé), Jowa und Hug Bäckerei (Backwaren und Brot), Micarna (Fleisch, Geflügel und Fisch), Delica (Kaffeeprodukte) oder Elsa-Mifroma (Milch und Käse). Zum Vergleich: Coop betreibt ebenfalls eigene Produktionsbetriebe (etwa Bell Food Group oder Swissmill), jedoch nicht so viele wie die Migros. Nach Firmenangaben sind über 56 Prozent des Coop-Sortiments Eigenmarkenprodukte.
Da tierische Produkte hinsichtlich des Klimas weniger gut abschneiden, ist es nicht abwegig, dass beispielsweise Micarna weniger erfreut über das neue Sternen-System sein könnte. Wunderlin räumt ein, dass intern eine Diskussion darüber geführt wurde. Wie in der Öffentlichkeit würden die Meinungen über das Thema auch im grossen Migros-Imperium auseinandergehen. «Wir haben das System aber gemeinsam entwickelt und es hat sich niemand quer gestellt», sagt Wunderlin. «Denkbar ist zudem, dass System später auch auf andere Schweizer Hersteller auszuweiten, die nicht zur Migros-Gruppe gehören.»
Greenpeace lobt die Bemühungen der Migros. «Der M-Check ist ein erster Schritt in die richtige Richtung», schreibt die Umweltorganisation – und listet dann aber zahlreiche Kritikpunkte auf. Allen voran sei unklar, wie das Rating genau entstehe. Konsumenten blieben beispielsweise im Dunkeln, ob auch Kriterien wie Stallhaltung und Lebensdauer der Tiere in die Sternwerte einfliessen würden. Ebenso, ob Transportwege und Emissionen durch Futtermittelanbau sowie Pestizideinsatz mitberechnet würden. Beim Rating von Poulet etwa scheint Letzteres völlig ausgeblendet zu werden.
Das Fazit von Greenpeace: «Das System gibt dem Konsumenten so ein falsches Bild, etwas Nachhaltiges zu essen, das es in Wirklichkeit aber gar nicht ist.» Und: «Der fast schon Greenwashing-ähnliche M-Check scheint weniger die Reduktion des Konsums nicht nachhaltiger Produkte im Fokus zu haben, als eher Produkte mit fraglichem Nachhaltigkeitswert ins gute Licht zu rücken.» Plakativ sehe man dies etwa bei den ausgewählten Produkten auf der Startseite des M-Checks, wo insbesondere tierische Produkte gezeigt würden.
Laut der Migros liegt das jedoch daran, dass derzeit erst tierische Produkte bewertet werden. Die Detailhändlerin verweist zudem darauf, dass sämtliche Beurteilungskriterien online transparent einsehbar seien: Für die Berechnung des Tierwohls sind es zehn, unter anderem der Auslauf im Freien, die Stallhaltung, der Einsatz von Medikamenten und der Transport. Beim Klima fliesse die gesamte Ökobilanz des Produkts ein, vom Anbau über den Einsatz von Wasser und Dünger, bis hin zum Transport und der Verpackung.
Ein besseres Fazit als Greenpeace zieht die Stiftung für Konsumentenschutz: «Der Konsumentenschutz begrüsst die Initiative der Migros sehr.» Offenbar sei der Druck der Konsum- und Umweltorganisationen sowie der Kundschaft inzwischen so gross geworden, dass die Migros nun Tatsachen schaffe. «Die Migros übernimmt hier eine Pionierrolle, welche hoffentlich rasch Nachahmerinnen und Nachahmer findet», schreibt die Stiftung auf Anfrage.
Ein weiterer möglicher Kritikpunkt ist: Zum Nachhaltigkeitskonzept gehören nicht nur Umwelt und Tierwohl, sondern auch der soziale Aspekt. Gerade bei der Herstellung der hierzulande beliebten Produkte Schokolade und Kaffee, deren Rohstoffe meist aus Entwicklungsländern stammen, werden die Menschenrechte immer noch häufig mit Füssen getreten. «Es ist unser Ziel, auch den sozialen Aspekt in die Bewertung aufzunehmen», so Wunderlin. «Bisher haben wir aber keinen Weg gefunden, die Dimensionen sind enorm komplex.» Will heissen: Den sozialen Aspekt auf einer wissenschaftlich fundierten Basis statistisch aufzuschlüsseln und dann auf eine Sterne-Skala herunterzubrechen, sei nicht ganz ohne.
Dass sich die Konsumgewohnheiten der Schweizerinnen und Schweizer aufgrund des M-Checks mittelfristig ändern könnten, hält die Migros für möglich. Wie gross der Beitrag der Detailhändlerin sei, lasse sich aber nicht einschätzen. «Es ist ein Trend, zu dem wir unseren Beitrag leisten können», sagt Wunderlin. Vor allem bei Online-Käufen könnte M-Check eine gute Chance haben: Denkbar sei, dass die gewünschte Anzahl Sterne als Filter gesetzt werden kann. Wer also etwa nur Fünf-Sterne-Produkte kaufen will, dem wird vor allem Regionales und Saisonales angeboten. Dies ist laut der Migros aber noch Zukunftsmusik.
Mit dem Nutri-Score erhalten Konsumenten bald eine weitere Orientierungshilfe beim Einkaufen. Dort geht es aber nicht um Nachhaltigkeit, sondern um ausgewogene Ernährung. Die Lebensmittel-Ampel kennzeichnet Produkte anhand ihrer Nährwerte und wurde von Migros und Coop vergangenen Sommer bereits probeweise eingeführt. Kürzlich hat sich die Schweiz mit sechs EU-Ländern darauf geeinigt, dass die Einführung des Nutri-Scores länderübergreifend koordiniert werden soll. Ziel sei es, damit die breite Verwendung der freiwilligen Lebensmittelampel zu erleichtern. Der Nutri-Score kennzeichnet Lebensmittel mit einer Farbskala von «A grün» (ausgewogen) bis «E rot» (unausgewogen). Das aus Frankreich stammende System wird seit 2019 von der Schweiz unterstützt. (gjo/sat)