Der renommierte britische Ökonom Ian Goldin sorgt mit seiner Theorie, dass mehr Migration langfristig für alle Beteiligten positive Auswirkungen hat, für Aufsehen. Seine Sicht könnte die Debatte zur Migrationspolitik bereichern.
Betrachtet man die aktuelle Debatte um Flüchtlinge, liegt der Fokus – nebst dem Leiden der Betroffenen – vor allem auf den entstehenden Lasten in den europäischen Ländern. Asylsuchende belasten den Sozialstaat und verursachen Mehrkosten für Grenzschutz und Polizei, so der Tenor. Geht man davon aus, dass sich die Völkerwanderungen aus den Krisenregionen in Nordafrika und Nahost kaum aufhalten lassen, lohnt ein Blick auf eine ökonomische Perspektive: Bietet Zuwanderung vielleicht gar eine wirtschaftliche Chance?
Die Weltbank kommt zu einem erstaunlichen Schluss: Würde sich die Migration in den entwickelten Ländern um nur 3 Prozent erhöhen, ergäbe sich daraus in 20 Jahren ein Mehrwert von umgerechnet rund 350 Milliarden Franken. Migration als Wachstumsfaktor, zumindest in der Theorie. Tatsächlich ist unter Ökonomen kaum umstritten, dass der wirtschaftliche Saldo einer (natürlich utopischen) Welt ohne Grenzen positiv ausfiele. Ähnlich der Freihandelstheorie, würde das «humane Kapital» – also die Menschen – sich dorthin bewegen, wo es am produktivsten eingesetzt werden kann.
Der prominenteste Verfechter dieser These ist Ian Goldin, britischer Ökonom und früherer Vizepräsident der Weltbank. Goldin hat Perioden hoher Zuwanderung untersucht, beispielsweise die Völkerwanderung von Europa in die USA im 19. Jahrhundert, und kommt zum Schluss, dass insbesondere die Einwanderungsländer stark von der Zuwanderung profitiert haben.
Im Gespräch mit der «Nordwestschweiz» erläutert er die Hintergründe: Erstens fördert Einwanderung Innovation: Nicht nur seien Menschen, die die Strapazen einer Auswanderung auf sich nehmen, tendenziell risikofreudig. Viel wichtiger: «Aus fremden Kulturen kommend, bringen sie neue Perspektiven ein. Für die Entstehung von unternehmerischem Drive und Innovation spielt Diversität eine entscheidende Rolle.»
Die prominenten Beispiele sind augenfällig: Sergey Brin, der Gründer von Google, ist Einwanderer, genauso die Gründer von Intel, Paypal, eBay und Yahoo. Tatsächlich waren 2005 über die Hälfte der Chefs im Silicon Valley Einwanderer. In den USA melden Migranten zudem im Verhältnis doppelt so viele Patente an wie Amerikaner. Ohne Einwanderung also weniger Innovation und weniger Unternehmertum.
Zweitens, sagt Goldin, erhöhen die zusätzlichen Arbeitskräfte unter dem Strich die Wirtschaftsleistung: Schlecht qualifizierte Immigranten übernehmen nicht nur Jobs, welche die heimische Bevölkerung nicht mehr machen will, sie bieten auch günstige Leistungen an, wie zum Beispiel Kinderpflege, die es der höher qualifizierten heimischen Bevölkerung erlauben, einer produktiven Tätigkeit nachzugehen – insbesondere hoch qualifizierten Frauen mit Kindern. «In den USA ist der Anteil von Frauen, die arbeiten deutlich höher in Regionen mit vielen niedrigqualifizierten Zuwanderern», sagt Goldin. Und dann gibt es auch noch die hochqualifizierten Einwanderer, deren volkswirtschaftlicher Nutzen unbestritten ist.
Drittens, so Goldin, hat Einwanderung längerfristig einen positiven Effekt auf Löhne. Entgegen der verbreiteten Ansicht könnten selbst im Niedriglohnbereich keine signifikanten Lohnreduktionen nachgewiesen werden. Zumindest keine bleibenden. Goldin gesteht zwar ein, dass zusätzliche Arbeiter in einzelnen Branchen kurzfristig zu tieferen Löhnen führen können, das Ausmass sei aber überschaubar. Und mittelfristig erhöhe sich durch die zusätzlichen Arbeiter die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes, was sich wiederum positiv auf das Lohnniveau auswirke.
Zu diesen drei Gründen kommt noch eine demografische Perspektive: Die Überalterung der Bevölkerung in Westeuropa wird zu einem zusätzlichen Bedarf an Arbeitskräften führen, nicht nur an Hoch-, sondern insbesondere auch an Niedrigqualifizierten. «Während die Staaten heute schon um hochqualifizierte Spezialisten buhlen, wird der Bedarf an günstigem Pflegepersonal in einer überalterten Gesellschaft steigen. Die Schranken der Zuwanderung werden auch dort sinken», prognostiziert Goldin. Zudem brauche es neue Arbeitnehmer und Steuerzahler, um die Sozialsysteme zu entlasten. Der deutsche Ökonom Hans-Werner Sinn hat ausgerechnet, dass in Deutschland bis 2035 32 Millionen zusätzliche Menschen nötig wären, um die Renten auf dem heutigen Niveau zu halten. Zwar sei eine höhere Geburtenrate der bessere Weg, Einwanderer könnten das Problem aber mildern, sagte er der «Zeit».
Die Schweizer AHV steht vor einer ähnlichen Herausforderung. Wegen der Überalterung der Gesellschaft rechnet der Bund bereits 2030 mit einem Ausgabenüberschuss von 9 Milliarden Franken. Das ist mehr als ein Prozent der Wirtschaftsleistung. Ohne Reformen wäre der AHV-Fonds bereits 2028 leer. Es stellt sich also die Frage, ob Einwanderer nicht zumindest Teil der Lösung für die AHV sein könnten.
Vor einer solchen «politischen Instrumentalisierung der Zuwanderung» warnt der Schweizer Wirtschaftsprofessor Thomas Straubhaar: «Die Zuwanderung wird die Überalterung der Gesellschaft nicht lösen, sondern bestenfalls vorübergehend mindern. Ich halte es für eine Illusion, zu glauben, dass man die Arbeitskräfte einfach am Tag X rufen kann und diese sich dann nach dem gewünschten Schema verhalten.» Zudem gebe es wirkungsvollere Massnahmen zur Sanierung der AHV wie eine weitere Erhöhung des Rentenalters, so Straubhaar.
Dennoch: Langfristig deutet vieles darauf hin, dass die Zuwanderung eine wirtschaftliche Chance bietet. Doch während der Nutzen der Migration erst über lange Sicht und eher diffus in Form von Wirtschaftswachstum anfällt, entstehen die Kosten unmittelbar sichtbar und dezentral – eben dort, wo die Einwanderer ankommen. Die ökonomische Theorie stösst hier aber auch an ihre Grenzen. Kein Land kann unbegrenzt Menschen aufnehmen. Zudem lassen sich die sozialen Folgen, die Herausforderung, Menschen aus fremden Kulturen in einer grossen Masse zu integrieren, nicht so einfach in eine Kosten-Nutzen-Rechnung überführen.
Konkret auf die Situation in Europa angesprochen, argumentiert Goldin in erster Linie humanitär: «Es geht hier um grundsätzliche ethische Fragen. Lassen wir die Menschen im Mittelmeer ertrinken oder helfen wir? Ich glaube, dass Europa eine gemeinsame Verantwortung hat, zu helfen. Auch wenn das erst einmal Opfer erfordert.»
Was heisst das für die Politik in Europa und der Schweiz? Eine rein ökonomische Betrachtungsweise greift vor dem Hintergrund der menschlichen Schicksale zu kurz. In Abwandelung des Zitats von Max Frisch kann man sagen: Es kommen Menschen, nicht Arbeitskräfte. Aber angesichts der Tatsache, dass sich die Migrationsströme kaum aufhalten lassen sowie der demografischen Entwicklung, würde sich eine rationalere Diskussion um das Thema Einwanderung lohnen. Die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative hat die Flexibilität der Schweiz, auf diese grossen Herausforderungen zu reagieren, nicht gerade erhöht.