Ab 2017 ist Riccardo Chailly Chefdirigent der Mailänder Scala. Deren Intendant Alexander Pereira hat ihn dorthin geholt. Kurios: Pereira ist bereits wieder abgesetzt. Am Dienstag präsentiert der ehemalige Zürcher Opernchef dennoch sein Programm für die kommende Spielzeit. «Die beste der letzten 50 Jahre», sagt Chailly.
Maestro, Sie werden ab 2015 Erster Gastdirigent, ab 2017 Generalmusikdirektor der Mailänder Scala. Geht damit Ihr Lebenstraum in Erfüllung?
Riccardo Chailly: Nein, für mich ist die Scala kein Lebenstraum, weil ich immer in diesem Theater Gast war und dort Konzerte und Opern dirigierte. Es ist für mich die logische Konsequenz unserer langen Geschichte. Ich kenne dort alle, alle kennen mich: Wir verstehen uns.
Sie kennen auch jenen Mann seit vielen Jahren gut, der Sie ans Theater geholt hat: Alexander Pereira. Die Situation ist aber bizarr: Pereira hat Sie angestellt, doch Ende 2015 ist er gar nicht mehr Intendant. Der Scala-Aufsichtsrat verkürzt Pereiras Vertrag von 6 Jahren auf 15 Monate, da er seine Kompetenzen überschritten und Co-Produktionen eingekauft hat, obwohl er offenbar nicht unterschriftsberechtigt war.
Wir werden sehen . . . (zögert) Es ist zu früh, darüber zu sprechen. Ich habe diese Berufung angenommen, da ich überzeugt bin, dass Pereira der richtige Mann am richtigen Ort ist. Ich beginne mit meiner Arbeit, anfangs allerdings bloss als Erster Gastdirigent, sogar zwei Jahre früher als geplant. Ab 2017 bin ich dann richtig mit dabei, habe Zeit, das Amt des Musikdirektors auszufüllen.
Nochmals: Sie nehmen in Kauf, dass jener Mann, der Sie an die Scala holte, dann gar nicht mehr da ist?
Ich hoffe, dass er dann noch da ist. Die Scala wird in Pereiras erstem Jahr eine der besten Saisons der letzten fünfzig Jahre bieten – das werden alle merken, auch die Verantwortlichen. Danach sehen wir weiter.
War dieser Trubel um seine vorzeitige Absetzung wegen angeblicher Kompetenzüberschreitung eine typisch italienische Sache?
Immer, wenn Entscheidungen nicht ausschliesslich auf der Sachebene diskutiert werden, wird es kompliziert.
Hat Pereira etwas falsch gemacht?
Ich glaube nicht. Er hat diese Co-Produktionen von den Salzburger Festspielen selbstständig ans Haus geholt. Das ist seit Jahrzehnten zwischen den führenden Opernhäusern und Festivals der Welt ein ganz normaler Vorgang.
Hat sich Pereira in Mailand bereits mächtige Feinde geschaffen?
Es machte alles keinen Sinn.
In Zürich herrschte er 21 Jahre, in Salzburg trennt man sich bereits nach drei Jahren, in Mailand vielleicht nach nur einem Jahr. Ist dieser Impresario alter Schule, dieser Sonnenkönig das Problem in Mailand, ist das nicht mehr zeitgemäss?
Nein. Ein Problem wäre, wenn wir einen unprofessionellen Intendanten hätten. Es gibt aber ganz wenige Intendanten in der Welt, die so viel musikalisches Wissen und so gute Beziehungen zu Regisseuren, Sängern und Dirigenten haben. Kommt hinzu, dass Pereira ein sehr guter Finanzmann ist. Er verkörpert alle Eigenschaften eines Spitzenintendanten.
Wie ist Ihr Arbeitsverhältnis zu Intendant Alexander Pereira?
Es ist eine Partnerschaft. Teamwork ist mir wichtig.
Schön und gut, aber wer bestimmt was – die Sänger, die Dirigenten?
Wir besprechen alles miteinander, ich bin über alles informiert. Wir haben nun einige Jahre vorausgeplant, die grosse Linie steht. Aber bis 2017 bin ich Gast dort, und noch ist Daniel Barenboim der musikalische Leiter der Scala.
Ganz allgemein: Wie anders war die Scala vor 40 Jahren?
Die Scala stand für «italienische Oper» – die Besten kamen zusammen, um italienische Oper aufzuführen. In den letzten Jahren ist das Haus viel internationaler geworden. Das ist schön und gut, aber mein Ziel und jenes von Alexander Pereira wird es sein, mehr und mehr wieder die italienische Oper zu stärken. Wir besinnen uns zurück auf die Wurzeln des Hauses.
Zur Scala gehört auch das Publikum, die berüchtigten Loggionisti in den obersten Galerien. Pereira hat Angst vor diesem lautstarken und kritikfreudigen Publikum, hat geklagt, dass viele Sänger ihretwegen nicht mehr an die Scala kämen. Ist das wahr?
Die Reputation der Scala ist schwierig, Pereira fantasiert ja nicht. Aber klar: Es war immer so an der Scala, wenn etwas nicht auf höchstem Niveau passiert. Aber dasselbe Publikum kann sich auch unglaublich begeistern und bravo rufen.
Haben Sie als Student auf dem Stehplatz gebuht?
Nein, aber ich erlebte einige Zuschauerproteste. Zu buhen ist für mich unhöflich.
Proteste sind nicht immer rational zu deuten. Aber das Opernpublikum reagiert nun mal menschlich, emotional irrational . . .
Ja, man muss das letztlich hinnehmen. Die Künstler müssen nun mal so gut wie möglich sein.
Die Scala ist ein Leuchtturm, aber daneben verschwinden viele italienische Theater. Selbst Häuser wie Rom und Florenz haben grosse Geldsorgen . . .
Es ist sehr traurig, eine grosse Unsicherheit macht sich breit. Viele Theater haben den Spielplan gekürzt, viele Theater sind immer nahe an der Schliessung.
Was kann die Situation verbessern?
Da kann wirklich nur die Politik helfen.
Aber da sind doch auch Leute wie Sie und Roms Dirigent Antonio Pappano gefragt: Sie müssen agieren, auf die Politiker zugehen!
Ja, logisch, wir wissen, dass dies in Italien der Weg ist, obwohl ich auch immer wieder sage: Der Dirigent soll vorwiegend dirigieren. Es ist leider eine schwierige Zeit für Italien, seit Jahren. Wichtig ist, dass wir die italienische Tradition maximal bewahren.
Ein Bewahrer dieser Tradition ist Claudio Abbado, Luzern wird ihn diesen Sommer schmerzlich vermissen. Er war auch in Ihrem Leben eine wichtige Person.
Er spielte in meinem Leben nicht nur als Interpret, sondern auch als Mensch eine grosse Rolle. Seine Einfachheit war einnehmend, man war immer willkommen bei ihm, die Tür seines Dirigentenzimmers war immer offen. Als Daniel Barenboim in der leeren Scala zwei Wochen nach Claudios Tod den Trauermarsch für ihn dirigierte, war ich mit Tausenden von Menschen draussen auf der Piazza Scala, viele weinten . . . Ich habe Claudio in den späten 1960ern in der Scala kennen gelernt, in den frühen 1970ern war ich sein Assistent. Ich war im Publikum, als er 2012 nach vielen Jahren zurückkehrte und in Mailand Mahler dirigierte. Und ich habe mit meiner Frau Gabriella die Kirche in Bologna besucht, wo er aufgebahrt war . . .
Was lernten Sie als junger Assistent von ihm?
Ich studierte noch, als ich ihm bereits assistieren durfte – seine Schlagtechnik der rechten Hand war phänomenal. Ich erinnere mich, wie ich in den «Wozzeck»-Proben sass und ihm pausenlos zuschaute. 20 Orchesterproben! Ich war glücklich, so oft wie möglich in seinen Proben zu sein.
Hat er Sie auch gelehrt, wie man sich verändern kann?
Er lehrte mich, dem Orchester immer mehr Freiheit zu geben – und sich selbst auch. Das ist eine Kunst, das beruht auf einem festen Glauben ans Orchester, daraus ergibt sich die nötige Vertrautheit. Das sah man am besten bei der Arbeit mit dem Lucerne Festival Orchestra. Man sieht sofort diese ungeheuerliche Vertrautheit. Das ist der Schlüssel. Eine Stufe nach der Vertrautheit kommt Freiheit – das ergibt grosse Musik.
Claudio Abbados Luzerner Idee des Orchesters der Freunde, würde Sie das reizen?
Ich hoffe, dass man das auch hier in Leipzig mit meinem Gewandhausorchester spürt. Ich habe hier wunderbare Menschen kennen gelernt, da herrscht nicht nur auf der Bühne gegenseitig viel Sympathie. Das ist für eine erfolgreiche Zusammenarbeit ungemein wichtig. Allerdings braucht es auch Disziplin, und die beruhte einst wohl auf einer Dirigentendiktatur. Die Disziplin ist aber eine Folge der Liebe, die wir zueinander haben.
Wir sind bei der Psychologie gelandet, «Psychologie» ist auch das Thema des Lucerne Festival im Sommer. Wie sehr muss ein Dirigent ein Psychologe sein?
Ich glaube, das ist fast wichtiger als die musikalischen Qualitäten. Die Beziehung von Dirigent und Musiker ist so tief, auch unbeschreiblich – das beruht auf Psychologie. Ich als Dirigent realisiere etwas, das in meinem Kopf ist, mithilfe anderer Menschen. Meine Interpretation beruht auf den Worten, mit denen ich mich ans Orchester wende. Aber eben: Welche Worte benutze ich dafür?
Heisst das, jeden Morgen zur Probe zu kommen und möglichst nett zu fragen, ja zu flehen: Macht es bitte so!
Nein, nein! Ich lasse immer erst das ganze Stück durchspielen – egal, was passiert, egal, obs kracht. Erst bei der Wiederholung setze ich an. Da erzähle ich mehr – auch persönliche Dinge.
Von da an muss der Psychologe die Musiker immer neu motivieren. Ist das nicht ein Grundproblem des Berufes?
So ist es, aber das ist kein Problem. Wäre es eines, dann hätte ich tatsächlich ein Problem. Das hiesse ja, die Musiker würden sich langweilen, da wäre eine Routine statt Spannung. Die Musiker sind mein Spiegelbild: Der Dirigent bekommt immer das zurück, was er gibt. Und er bekommt auch das, was er nicht macht. Wer unklar ist, erhält Unklarheiten.
Ist es möglich, den Musikern etwas vorzumachen, um etwas zu erreichen?
Nein, das ist auch nicht mein Ziel.
Und als psychologischer Trick?
Orchestermusiker fallen nicht auf Tricks herein; sie erkennen die Persönlichkeit eines Dirigenten – schon allein, wie er aufs Podium kommt, und spätestens nach dem ersten Blick, ist ihnen alles klar. Die Musiker wollen Klarheit.
Muss der Dirigent vom Orchester geliebt werden?
Ja, das wäre ideal, aber es ist nicht immer so. Es gibt Situationen, wo es zu Spannungen kommt. Ich erlebte Extreme, wo mir nichts anderes übrig blieb, als die Probe abzubrechen, ins Künstlerzimmer zu gehen und tief durchzuatmen, damit sich alles etwas beruhigen konnte. Manchmal musste ich zugeben, dass ich zu weit gegangen war, da waren die Musiker an eine Grenze gestossen.
Wie sehr kann ein Dirigent einüben, Wirkung aufs Publikum zu haben? Sie sagten ja, entscheidend sei, wie sie aufs Podium schreiten.
Das Publikum erlebt die zutiefst menschliche Beziehung und Erfahrung zwischen Dirigent und Orchester: Das Resultat wird aufs Publikum gespiegelt.
Wenn Sie als Zuhörer im Konzertsaal sitzen, worauf achten Sie dann?
Erst mal muss ich sagen, dass ich das unheimlich liebe! Aber ich muss mich schon erst etwa eine Viertelstunde lang von meinem Vorwissen lösen, von meinen Ideen und Interpretationen. Aber wenn ich dann eine neutrale Position erreicht habe, kann ich die Musik geniessen. Dann ist es auch egal, ob die Interpretation in meinem Sinne wäre oder nicht. Ich will mich von den Wellen der Musik forttragen lassen. Das Herz muss sprechen, nicht nur der Kopf.
Was ist ein schlechtes Konzert?
Wenn ich nicht 100 Prozent geben oder bekommen kann – ich merke das jeweils ganz genau, auch als Zuhörer. Wir müssen an die Grenze gehen.
Das Herz lässt sich auch täuschen: Ein Dirigent kann auf mich grosse Faszination ausüben. Sehe ich ihn dagegen nicht, höre ich alles anders.
Ja, es gibt Situationen, wo man vielleicht die Augen schliessen und sich aufs Ohr konzentrieren muss.
Gibt es nicht Dirigenten, die davon profitieren, dass ich auf sie schaue? Manche bieten eine ziemlich gute Show.
Das ist für mich kein Thema. Ich bin zwar ein extrovertierter Dirigent, keine Frage, aber immer ist da der Kontakt zur Partitur, zum Komponisten und zum Orchester.
Riccardo Chailly, Sie wurden vor einem Jahr sechzig: Haben Sie sich als Mensch Neues für die Zukunft vorgenommen?
Ich habe Wünsche, aber ich habe keine Träume: Ich realisiere Projekte.
Chailly und das Gewandhausorchester in Luzern: Sonntag, 7. 9., Montag, 8. 9.
Karten: www.lucernefestival.ch
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