«Ein Kurs von 1.30 ist das Minimum»

In der Wirtschaft steigt die Ungeduld gegenüber der Nationalbank. Arbeitgeber und Gewerkschaften sind sich einig: Nur Philipp Hildebrand kann eine weitere Verlagerung von Arbeitsplätzen verhindern.

SaW Redaktion
Drucken

Die Exportwirtschaft jubelte, als die Nationalbank am 6.September den dramatischen Frankenanstieg stoppte. Doch in den letzten Wochen zeigte sich immer deutlicher: Der von der Nationalbank erfolgreich verteidigte Mindestkurs von Fr. 1.20 für einen Euro kann die Schweizer Industrie nicht retten.
Im Gegenteil: Im November häuften sich die Hiobsbotschaften. Wegen des starken Frankens streicht der Verpackungsmaschinenhersteller Bobst 420 Stellen, die Cham Paper Group verlagert 200 Jobs nach Italien, der Verschlüsselungsspezialist Kudelski baut in der Schweiz 90 Stellen ab, beim Autozulieferer Wicor sind es 40 Stellen.
Jetzt mehren sich die Stimmen, die von der Nationalbank eine weitere Schwächung des Frankens fordern. Zu den prominentesten gehört Unternehmer und SVP-Nationalrat Peter Spuhler. Der Inhaber des Schienenfahrzeugherstellers Stadler Rail warnt vor einer Entindustrialisierung der Schweiz. «Bleiben die Wechselkurse gegenüber Euro und Dollar kaufkraftbereinigt weiterhin überbewertet, werden Arbeitsplätze nach und nach ins Ausland verlegt.» Nun müsse die Nationalbank eingreifen, fordert er. «Die einzige Hilfe für den Werkplatz Schweiz ist eine Wechselkursrelation zum Euro von mehr als 1.35.»
Schwarz für die heimische Industrie sieht auch Michael Pieper, Inhaber des Küchenherstellers Franke und zusammen mit Spuhler Grossaktionär der Industriekonzerne Rieter und Autoneum. «Der aktuelle Mindestkurs von 1.20 ist zu tief. In der Schweiz macht die Franke-Gruppe nur noch marginal Gewinn. Ein Kurs von 1.30 bis 1.35 ist das Minimum, damit die Exportindustrie einigermassen über die Runden kommt.»
Mit ihrem Appell an die Nationalbank sind Spuhler und Pieper nicht allein. In den letzten Wochen habe sich «eine erstaunlich grosse Koalition für eine weitere Schwächung des Frankens gebildet», sagt Paul Rechsteiner, Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes und SP-Nationalrat. «Es ist selten, dass sich die wichtigsten Akteure der Schweizer Wirtschaft so einig sind.»
Um die Arbeitsplätze zu schützen, müsse die Nationalbank ihre Untergrenze auf mindestens Fr. 1.40 pro Euro erhöhen, fordert Rechsteiner. Gestern doppelte seine Partei nach. Sie verlangte von der Nationalbank, «rasch zu handeln und den Frankenkurs umgehend nach unten zu korrigieren». Nach Einschätzung der SP liegt der faire Kurs zwischen 1.40 und 1.45.
Auf der anderen Seite des politischen Spektrums, bei der SVP, wird eine Intervention der Nationalbank ebenfalls gewünscht. Der Schaffhauser Ständerat und Bundesratskandidat Hannes Germann sagt: «Eine Anhebung des Mindestkurses kann man nur unterstützen. Ein breiter Sukkurs der Politik wäre der Nationalbank sicher.»
Wenn der Wechselkurs auf dem gegenwärtigen Niveau verharre, werde es im nächsten halben Jahr zu einer Welle von Stellenabbau und Produktionsverlagerungen kommen, warnt Hans Hess, Präsident des Maschinen-, Elektro- und Metallbauverbandes Swissmem. 45 Prozent der Mitgliedsfirmen haben wegen des starken Frankens bereits Stellen gestrichen oder planen dies noch, bei 54 Prozent sind Verlagerungen in den Euroraum ein Thema. Nun verlangt Hess: «Die Nationalbank soll versuchen, den Franken rasch weiter abzuschwächen. Der Wechselkurs muss sich in Richtung Kaufkraftparität bewegen, die derzeit bei etwa Fr. 1.38 pro Euro liegt.»
Zu den Opfern der Frankenstärke zählt auch der Detailhandel. Um den Einkaufstourismus einzudämmen, fordert der Präsident der IG Detailhandel, Migros-Chef Herbert Bolliger, die Nationalbank zum Eingreifen auf. «Kurzfristig ist eine Anhebung der Untergrenze auf Fr. 1.30 wünschenswert», sagt er. Gemessen an der Kaufkraftparität sei der Franken damit aber immer noch überbewertet. «Insofern ist mein Weihnachtswunsch ein Kurs von 1.40. Das würde dem Schweizer Detailhandel sehr helfen.»
Doch ist der Wunsch nach einer weiteren Frankenabschwächung realistisch? Ja, glaubt der Präsident des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes, Valentin Vogt. «Ich habe das Vertrauen, dass die Nationalbank weitere Massnahmen ergreifen wird, falls es die Wirtschaftsaussichten und eine deflationäre Entwicklung erfordern werden.»
Genau dieses Hintertürchen – eine mögliche Deflation – hatte Nationalbank-Präsident Philipp Hildebrand aufgestossen. Vor drei Wochen kündigte er an, den Franken weiter abzuschwächen, falls der Schweiz eine Deflation droht.
Dass dieser Fall eintritt, glauben immer mehr Beobachter, darunter die Bank Julius Bär und die Zürcher Kantonalbank. Tatsächlich fiel die Teuerungsrate im Oktober erstmals seit zwei Jahren wieder leicht ins Minus. Gerold Bührer, Präsident des Unternehmerverbandes Economiesuisse, rechnet nun damit, dass die Teuerung in den nächsten Monaten «um null oder sogar leicht darunter» liegt. Auch deshalb würde er es «begrüssen, wenn die Nationalbank ihr Kursziel anhebt, sobald sich die Gelegenheit ergibt».
Beantworten Sie dazu die Sonntagsfrage.
Mehr Themen finden Sie in der gedruckten Ausgabe oder über E-Paper!