Heute Nacht können erstmals gleich zwei Schweizer Filme einen Oscar gewinnen. Ihre Macher lobbyieren höchst strategisch, und sie rechnen sich Chancen aus.
Der Puls schlägt hoch, schon seit Monaten», sagt Max Karli, als die «Schweiz am Sonntag» ihn kurz vor seinem Abflug nach Los Angeles erreicht. Für den Genfer Produzenten von «Mein Leben als Zucchini» (Originaltitel: «Ma vie de Courgette») ist die 89. Oscar-Verleihung heute Nacht der Höhepunkt eines aufregenden Jahres. Nach unzähligen Festivalerfolgen und Auszeichnungen buhlt der Schweizer Animationsfilm im Kodak Theatre in Hollywood um eines der begehrten Goldmännchen.
Der Weg dorthin war lang, anstrengend und teuer. Dem Schweizer Filmteam um Karli und Regisseur Claude Barras standen Mittel von einer halben Million Franken zur Verfügung, um Mitglieder der Academy davon zu überzeugen, «Mein Leben als Zucchini» für eine Oscar-Nominierung in Betracht zu ziehen. «Wir waren zweieinhalb Monate lang in den USA unterwegs und haben dreissig Vorführungen unseres Films mit anschliessender Fragerunde durchgeführt», erzählt Max Karli.
Gezieltes Lobbying
Solches Lobbying ist in Hollywood gang und gäbe. Die grossen US-Studios geben für ihre Oscar-Kampagnen jedes Jahr Summen in zweistelliger Millionenhöhe aus. Doch sobald es ein Film unter die Nominierten geschafft hat, wird alles anders. Während jener Phase, in der die rund 7000 Mitglieder der Academy die jeweiligen Sieger auf ihren Stimmzetteln ankreuzen, dürfen laut Academy-Regeln keine Filmvorführungen oder teure Apéros mehr durchgeführt werden.
Einfach zurücklehnen und warten geht aber auch nicht. Was haben die Schweizer Filmdelegationen seither unternommen, um ihre Sieges-Chancen trotzdem zu steigern? Max Karli: «Wir haben viel Werbung gemacht, zum Beispiel in der ‹Variety›.» Das Fachmagazin erhalten alle Academy-Mitglieder in den USA frei Haus. Der «Zucchini»-Produzent kannte auch einen Trick, um das Vorführverbot zu umgehen: «Wir haben ‹Mein Leben als Zucchini› Anfang Februar am Filmfestival in Santa Barbara gezeigt.» Dort sind jedes Jahr viele Oscar-Wähler anzutreffen. Den eigenen Film in diesem Rahmen zu zeigen, gilt nicht als Regelverstoss.
Der Zürcher Regisseur Timo von Gunten und der Basler Produzent Giacun Caduff sind mit ihrem Kurzfilm «La femme et le TGV» für den Oscar nominiert. Als die «Schweiz am Sonntag» die beiden erreicht, stecken sie – typisch Los Angeles – gerade im Stau, unterwegs zum nächsten Interviewtermin. Die jungen Schweizer sind in Hollywood gefragte Gäste. Auch sie hätten ihren Film seit der Nominierung mit Anzeigen beworben, erzählt Caduff. Ihre Strategie sei aber eher eine virale gewesen, also mit Fokus auf die sozialen Medien.
So veröffentlichte das Duo auf Facebook Selfies von sich mit Hollywoodstars wie Emma Stone und Justin Timberlake. Und ein Foto davon, wie das Filmplakat zu «La femme et le TGV» eine riesige Gebäudefassade auf dem viel befahrenen Sunset Boulevard ziert, machte im Netz die Runde. «Es ist unglaublich, was man mit Photoshop alles anstellen kann», sagt Caduff verschmitzt. Das Foto des Filmplakates sei ein bearbeitetes Bild, er und von Gunten seien vor ein paar Tagen jene Strasse entlanggefahren, als dem Regisseur die Idee dazu kam. In echt würde ein so prominent platziertes Plakat mehrere Hunderttausend Dollar kosten. Caduff lacht: «In Zeiten von Fake News ist alles erlaubt.»
Timo von Gunten sagt, es sei schwierig, die Gewinnchancen ihres Films einzuschätzen. Am Abend zuvor hätten sie bei einer offiziellen Vorführung in einem Academy-Kino erstmals auch die vier anderen Kurzfilme gesehen, die neben ihrem nominiert sind. «Das ist ein sehr starker Jahrgang», sagt von Gunten, «die Konkurrenz ist gross.» Die Reaktion auf «La femme et le TGV» sei aber gut gewesen. Caduff erzählt: «Als unser Film gezeigt wurde, haben wir gemerkt, dass er die Leute mitzieht, sie waren richtig begeistert.»
Auch das «Zucchini»-Team traf an verschiedenen Anlässen immer wieder auf seine Mitnominierten. «Alle waren nett zu uns, weil unser Film als Aussenseiter gilt, also keine Gefahr für sie darstellt», erzählt Max Karli und lacht. Er schätzt die Siegeschancen von «Mein Leben als Zucchini» als verschwindend gering ein. «Ich bin mir zu 99 Prozent sicher, dass ‹Zootropolis› gewinnen wird.» Die Disney-Produktion gilt in Hollywood als haushoher Favorit in der Kategorie beste Animation. Und trotzdem: «Wir werden ganz sicher etwas vorbereiten. Falls wir doch auf die Bühne dürfen, wollen wir auch etwas Gescheites zu sagen haben.»
Hollywoodexperten haben für «La femme et le TGV» dagegen eine Gewinnchance von fifty-fifty berechnet. US-Journalist Scott Feinberg, der Oscar-Spezialist von «The Hollywood Reporter», sagt bei den Kurzfilmen zwar einen Sieg von «Sing» («Ein Film mit einer tollen Message», findet Caduff) voraus. Eine anonyme Oscar-Wählerin, die Feinberg ihre persönlichen Abstimmungsergebnisse verriet, hat den Schweizer Kurzfilm aber ausdrücklich gelobt. Sie habe für «La femme et le TGV» gestimmt, weil «der Film mit der älteren Frau und dem Zug voller Menschlichkeit» sei.
Dass diese ältere Frau, die im Film jeden Tag aus ihrem Fenster dem vorbeirasenden TGV zuwinkt, von der bekannten Schauspielerin und Sängerin Jane Birkin gespielt wird, könnte sich im Rennen um den Oscar als entscheidender Vorteil erweisen. Leider könne Birkin das Schweizer Filmteam aber nicht an die Verleihung begleiten, erzählt Caduff. Sie sei in Frankreich gerade auf Tour, und ihre angeschlagene Gesundheit erlaube es ihr nicht, schnell nach Los Angeles zu jetten.
«Wir sind alle Gewinner»
Das soll aber schlechtes Omen sein. Sowieso: Keinen Oscar zu gewinnen, würde ja nicht bedeuten, dass man verloren habe, sind beide Schweizer Filmteams überzeugt. «Es ist wie, wenn man mit fünf Freunden auf den Gipfel des Mount Everest geklettert ist», sagt «Zucchini»-Produzent Max Karli. «Egal, wer von uns zuerst oben ankam, wir sind alle Gewinner.» Auch «TGV»-Produzent Giacun Caduff bedient sich einer Sportmetapher: «Enttäuscht zu sein, wenn wir nicht gewinnen, wäre genau so absurd, wie wenn sich ein Olympiateilnehmer vom Dach stürzt, nur weil er keine Medaille geholt hat.»
Und am Schluss, wenn alle «And the Oscar goes to ...»-Ansagen und alle Brandreden gegen Trump gesprochen sind, wenn das grosse Hollywoodabenteuer der Schweizer Filmteams auf einen Schlag vorbei ist – was dann? «Wir werden uns daran gewöhnen müssen, dass wir auf Facebook weniger Anfragen erhalten», lacht Caduff. Max Karli dagegen glaubt, dass sich der Tag danach so anfühlen würde, «als falle man in ein Loch». Eines, das man am besten mit einem neuen Projekt fülle. «Wir produzieren im Sommer den neuen Film von Bettina Oberli», sagt Karli voller Vorfreude.
Umworbener von Gunten
Timo von Gunten dagegen bleibt vorerst in Hollywood. Die Oscar-Nominierung hat dem Jungtalent Türen geöffnet. Seinen nächsten Film, «The Man Who Sold the Eiffel Tower», hat sich mit Silvatar eine Produktionsfirma in Hollywood unter die Nägel gerissen, das Projekt sei sogar schon vor der Nominierung aufgegleist worden. Und von Gunten erhalte inzwischen Drehbücher aus Hollywood zugeschickt, mit der Bitte, sie zu verfilmen. Nicht schlecht für einen Schweizer Nachwuchsfilmer, dem einst die Tür zur filmischen Ausbildung an der Zürcher Hochschule der Künste vor der Nase zugeschlagen wurde.
Was auch immer in der Oscar-Nacht passiert: Allein mit der Tatsache, dass heute zum ersten Mal überhaupt zwei seiner Filme gleichzeitig um den Oscar buhlen, hat das Schweizer Kino 2017 Geschichte geschrieben.
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