Als für die Olympischen Spiele zuständiger Exekutivdirektor des Internationalen Olympischen Komitee (IOC) arbeitete Christophe Dubi an der wohl grössten Change-Management-Fallstudie der Geschichte, als die Sommerspiele Tokio 2020 infolge der Covid-19-Pandemie verschoben werden mussten. Ein Jahr danach zieht der Schweizer Ökonom, der seit 26 Jahren in Diensten des IOC steht, Bilanz.
Wie organisiert man verschobene Olympische Spiele inmitten einer globalen Pandemie? Im März 2020, als die Welt und die Weltwirtschaft am Boden lagen, drehten sich die Gedanken um eine andere Frage: Sollte Tokio 2020 überhaupt stattfinden?
Unsere Antwort fiel schnell und eindeutig aus: Eine Absage kam nicht in Frage. Dies waren wir den Athleten und der Welt schuldig. Auf dieser Grundlage führten wir intensive Diskussionen, die zu unserer bevorzugten Lösung führten: die Spiele zum ersten Mal in der Geschichte um bis zu einem Jahr zu verschieben.
«Wir» das war in diesem Fall eine breite Gruppe von Führungskräften, die alle wichtigen, beteiligten Stakeholder repräsentierten: Japans damaliger Premierminister Shinzo Abe, der die Olympiabewerbung Tokios von Anfang an unterstützt hatte, IOC-Präsident Thomas Bach, der damalige Präsident von Tokio 2020, Yoshiro Mori, und Tokios Gouverneurin Yuriko Koike sowie der Vorsitzende der IOC-Koordinierungskommission für Tokio 2020, John Coates, und Olympia-Minister Seiko Hashimoto, die später Präsidentin von Tokio 2020 wurde.
Dies stand am Anfang von 16 aussergewöhnlichen Monaten, in denen das IOC, die Olympische Bewegung, das Organisationskomitee Tokio 2020 und die japanischen Behörden ihr gesamtes Wissen und ihre Erfahrung im Bereich des Krisen-, Risiko- und Change-Managements auf die Probe stellten.
Die Spiele sind ein sehr komplexes und herausforderndes Unterfangen, an dem Tausende von Akteuren auf allen Kontinenten beteiligt sind, auch finanziell steht viel auf dem Spiel. Neben den Herausforderungen, die die Verschiebung der Spiele mit sich brachten, mussten wir die globale Gemeinschaft in einem hochsensiblen und sich ständig verändernden Pandemie-Kontext physisch zusammenbringen. Dies geschah zu einer Zeit, in der der grenzüberschreitende Reiseverkehr weitgehend eingestellt war.
Es gab keine Blaupause für diese Aufgabe und es bedurfte einer aussergewöhnlichen Anstrengung aller – der Athleten, der Nationalen Olympischen Komitees, der Fernsehpartner des IOC und der Sponsoren – , um Spiele auf die Beine zu stellen, die ihre Spuren in der Geschichte und kollektiven Erinnerung der Menschen hinterlassen haben.
Einer der Schlüsselmomentee für diese These kam am Donnerstag, dem 29. Juli 2021, sechs Tage nach der Eröffnungsfeier von Tokio 2020. Wir warteten auf den neuesten Tagesbericht über die COVID-19-Fälle im Olympischen Dorf und wir alle hatten die Prognosen unserer Experten im Kopf: Wenn die Gegenmassnahmen greifen, so hatten sie uns gesagt, würden die Fälle von diesem Tag an zurückgehen. Wenn nicht, würde dies auf eine Übertragung innerhalb der Blase hindeuten – dies wäre eine grosse Gefahr für die Spiele gewesen.
Die an diesem Tag gemeldeten Zahlen bestätigten, dass wir – von vier Szenarien ausgehend – sorgfältig geplant hatten. Diese Szenarien waren auf Rat der Weltgesundheitsorganisation und anderer internationaler Gremien ständig angepasst worden. Die Zahlen zeigten zudem, dass unsere Botschaft angekommen war: Die Einhaltung der COVID-19-Schutzmassnahmen ist sowohl eine individuelle als auch eine kollektive Verantwortung.
Dies war aber nur eine Momentaufnahme. Als Organisator wissen Sie, dass der Beginn einer Veranstaltung lediglich das Ende der Planung ist. Hier ist, was wir sonst noch aus diesen aussergewöhnlichen 16 Monaten mitgenommen haben:
1. Die Olympischen Spiele sind bedeutsam
Die Spiele gehören der Menschheit und sind Teil der Geschichte, es ist ein Privileg, sie unterstützen zu können. Auch wenn wir dies schon vorher wussten, war es nie klarer als in diesem beispiellosen Kontext. Wir haben es an der unmittelbaren Reaktion der internationalen Gemeinschaft – der Vereinten Nationen, der G7 und der G20 – und der Athleten gesehen, für die die Spiele den Höhepunkt ihrer Karriere darstellen.
In den ersten vier Monaten nach der Verschiebung mussten Tausende von Verträgen – mit Mitarbeitern, Verkäufern, Partnern, Zulieferern, Fernsehpartnern und vielen anderen – neu abgeschlossen werden. Die Unterstützung und Zusammenarbeit war schlicht unglaublich. Einigkeit ist eine starke Kraft.
2. Eine Kultur des Vertrauens ist entscheidend
In den ersten Tagen nach der Verschiebung sahen wir uns mit Hunderten von Problemen konfrontiert. Wir mussten uns diesen Herausforderungen mit der festen Überzeugung stellen, dass wir sie gemeinsam mit allen Beteiligten und trotz aller Widrigkeiten bewältigen können.
Unter der Leitung von John Coates als Chef unserer Koordinierungskommission konzentrierten wir uns darauf, die Arbeitsabläufe und Prozesse neu zu organisieren und aufeinander abzustimmen. Gemeinsam mit unseren Partnern legten wir vier Schlüsselphasen fest:
· Sicherung der Grundlagen durch Gespräche und Neuverhandlung von Verträgen;
· Identifikation von Einsparmöglichkeiten, um die finanziellen Auswirkungen der Verschiebung abzumildern;
· Festlegung der COVID-19-Massnahmen zur Abschwächung der epidemiologischen Risiken;
· Abschluss der operativen Vorbereitungen.
3. Generationsübergreifende Projekte erfordern eine starke Vision
Ein Ereignis, das nur einmal pro Generation stattfindet, wie es die Olympischen Spiele sind, muss einen klare Bestimmung und Nutzen für die Gesellschaft des Gastgeberlandes haben. Dies war in Japan schon der Fall, bevor die Spiele für die Welt zum Licht am Ende eines sehr langen und dunklen Tunnels wurden.
Die Vision von Tokio 2020 wurde von oben gesteuert. Es ging darum, das Beste Japans zu zeigen, basierend auf den Werten des Landes – die Widerstandsfähigkeit und den Spirit seiner Menschen, die durch die Ereignisse der eigenen Geschichte geprägt sind. Dazu gehört das Grosse Ostjapanische Erdbeben von 2011, Respekt und Engagement und die Liebe zum Detail. In einer Situation, in der wir detailliert vorgehen mussten, hätten wir uns keine besseren Partner als unsere Freunde in Japan vorstellen können.
4. In der Krise heisst Führung, schwierige Entscheidungen zu treffen
Das haben wir bei IOC-Präsident Bach, bei John Coates, den Präsidenten von Tokio 2020, Mori und später Hashimoto, Gouverneurin Koike und den Premierministern Abe und Suga erlebt. Konsequente Entscheidungen, insbesondere wenn sie unter schwierigen Umständen getroffen werden, schaffen Vertrauen und fördern die Zusammenarbeit von allen Beteiligten und Stakeholdern. Dieser Geist der gemeinsamen Stärke war für unseren Erfolg von entscheidender Bedeutung.
5. Kommunikation ist Management
Unter allen Umständen – intern und extern – darf man nicht zulassen, dass die positive Einstellung nachlässt oder sich der geringste Zweifel einschleicht. Projekte wie die Verschiebung der Olympischen Spiele erfordern zudem höchste Transparenz und permanente Kommunikation mit allen Zielgruppen, einschliesslich der Beziehungspflege zu allen Stakeholdern.
Wenn sie nicht ständig erklären, was sie tun, wie sie Probleme angehen und welchen Nutzen das Projekt für die Öffentlichkeit hat, können sie in ernsthafte Schwierigkeiten geraten.
6. Einschränkungen helfen, um weiter und schneller zu gehen
In Tokio mussten wir bei unserer Suche nach Einsparmöglichkeiten sehr genau vorgehen. Wenn man Mittel und Wege findet, die Dinge zu vereinfachen, ist es möglich. Dies war der Geist der Zusammenarbeit zwischen den Teams beim IOC und Tokio 2020, der Stadtverwaltung von Tokio, der japanischen Regierung und vielen anderen Akteuren weltweit.
Bereits vor COVID-19 hatten wir es gemeinsam geschafft, durch die Überarbeitung der Sportstätten-Planung 2,2 Mrd. US-Dollar einzusparen und durch die konsequente Umsetzung der Olympischen Agenda 2020 und der Reformen der Neuen Norm Einsparungen in Höhe von 2,1 Mrd. USD zu erzielen. Nach der Verschiebung der Spiele erzielten wir weitere 280 Mio. US-Dollar durch Optimierungen und Vereinfachungen.
All diese Lehren werden für zukünftige Spiele von Nutzen sein.
Ein Jahr später können wir sagen: Dies ist ein beachtliches Ergebnis für beispiellose Olympische Spiele, die die Welt inspiriert und in einer äusserst schwierigen Zeit Hoffnung, Freude und Licht gebracht haben.