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Sport (AZ, BT)
Am Sonntag kehrt Stéphane Henchoz mit seinem neuen Klub Sion nach Aarau zurück. An den Ort, wo vor gut drei Monaten, am 2. Juni 2019, das Undenkbare geschah: Xamax holte im Barrage-Rückspiel einen 0:4-Rückstand auf und sicherte sich im Penaltyschiessen den Ligaerhalt. "Ein Lehrstück fürs Leben", sagt Henchoz.
Mittwochvormittag in Martigny, am Fuss des Grossen St. Bernhard. Die Sonne arbeitet sich hinter dem Berg hervor und wärmt die Luft, was die Tristesse dieses Ortes etwas erträglicher macht. Auf einem Fussballplatz, bei dessen Anblick auch ein 3. Liga-Spieler die Nase rümpft, bläst Sion-Trainer Stéphane Henchoz im Dreisekunden-Rhythmus in seine Trillerpfeife. Torschusstraining vor dem Cupspiel in Aarau.
Henchoz? Aarau? Brügglifeld? Vor gut drei Monaten, am 2. Juni 2019, ist Henchoz noch Trainer von Xamax und schafft mit den Neuenburgern das Undenkbare: Nach dem 0:4 im Hinspiel drei Tage zuvor gewinnt Xamax in Aarau mit dem gleichen Resultat, im Penaltyschiessen entscheidet der Fehlschuss von Aarau-Captain Zverotic zugunsten der Romands.
Das Training in Martigny ist fertig und während die Spieler vom Platz trotten, setze ich mich mit Henchoz auf eine klapprige Holzbank, zeige ihm drei Bilder dieses 2. Juni und nach einem tiefen Seufzer sind Henchoz erste Worte: «Ich war mit der Schweiz an zwei Europameisterschaften, habe mit Liverpool den Uefa-Cup gewonnen – aber die Emotionen in diesen Barrage-Tagen toppen alles. Sehen Sie, ich bekomme Hühnerhaut, wenn ich die Bilder sehe. Die Rückkehr ins Brügglifeld drei Monate danach ist sehr speziell.» Und dann begeben wir uns auf Zeitreise, angefangen nach dem Schlusspfiff des Hinspiels am Donnerstag 30. Mai.
An der Pressekonferenz nach dem Spiel musste ich mich zusammenreissen, um nichts Falsches zu sagen. Obwohl eine winzige Piepsstimme in mir drin meinte, dass die Barrage noch nicht verloren ist, konnte ich das doch nicht den Journalisten sagen – ich hätte mich lächerlich gemacht! Danach ging ich in mein Trainerbüro, von den Spielern wollte ich keinen mehr sehen. Es war das erste Mal in meiner Zeit bei Xamax, dass meine Mannschaft nicht alles gegeben hat. Einige Spieler waren mit ihren Gedanken in den Ferien oder bei ihren neuen Klubs – das Schicksal von Xamax hat sie im Hinspiel nicht interessiert.
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Auch eine kleine Gruppe Spieler um Captain Raphael Nuzzolo, der zuvor wegen angeblichen Spuckens gegen den Schiedsrichter vom Platz flog, bleibt noch lange in der Maladière. Die Gedanken der Spieler drehen sich um ein Thema: «Wenn Aarau bei uns vier Tore schiesst, können wir das im Brügglifeld auch.» Trainer Henchoz steigt weit nach Mitternacht ins Auto, aufgewühlt und hellwach. Einschlafen kann er in dieser Nacht nur mithilfe von Tabletten.
Der Morgen danach war der schwierigste meines Fussballerlebens – und ich habe wirklich schon viel durchgemacht! Ich hatte keine Lust aufzustehen, keine Motivation und keine Kraft, wieder zum Stadion zu fahren und ein Training zu leiten. Aber ich war der Trainer, irgendwie musste ich mich aufrappeln und vorangehen. Zur Mannschaft habe ich nur wenige Worte gesagt – etwa so: ‹Es ist noch ein Spiel, noch zwei Tage, dann seid ihr mich und Xamax los! Auch wenn wir uns in Aarau wahrscheinlich aus der Super League verabschieden werden, dann wenigstens mit Stolz . Jeder von Euch, der dazu nicht mehr bereit ist, kann jetzt seine Sachen abgeben und in die Ferien fliegen. Ich verstehe jeden, der nicht mehr will. Aber von den Spielern, die am Samstag in den Bus nach Aarau steigen, verlange ich die Bereitschaft, mit den Waffen in der Hand zu sterben. Ich bin noch nie vor einem Gegner geflüchtet, habe ihm immer ins Gesicht geschaut, auch wenn er noch so übermächtig war – das Gleiche verlange ich jetzt von Euch!›
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Am Samstag sitzen alle Xamax-Spieler im Bus. «Damit habe ich nicht gerechnet», sagt Henchoz. Vor der Abfahrt nach Aarau zeigt er der Mannschaft einen siebenminütigen Film. Bilder aus dem Champions-Halbfinal zwischen Liverpool und Barcelona, in dem die Engländer nach der 0:3-Schlappe im Hinspiel das Rückspiel mit 4:0 gewannen. Untermalt mit pathetischer Musik und den Worten: «Wenn niemand mehr an dich glaubt, glaube wenigstens du selber an dich!» Die Stimmung im Hotel, so Henchoz, sei angenehm gewesen. Abends schauen alle den Champions-League-Final zwischen Liverpool und Tottenham, einen Zapfenstreich gibts nicht. Am Morgen vor dem Spiel macht Henchoz etwas, das er noch nie getan hat:
In der Mannschaftssitzung habe ich kein Wort über die Taktik verloren, zum ersten und wohl letzten Mal in meiner Trainerkarriere. Warum auch? Was hätte das gebracht? Taktik war an diesem Tag die unwichtigste Sache der Welt! Ich habe nur an den Stolz der Spieler appelliert, ich wollte sie emotional berühren und ihnen einen Grund geben, an diesem Tag auf dem Platz zu sterben, sie brauchten das. An der Wand hing ein Blatt mit allen Namen in der Startelf – ich habe im Vergleich zum Hinspiel fünf Mal gewechselt und nur Spieler aufgestellt, von denen ich wusste, dass sie mit Herz dabei sind. Ob jeder von ihnen auf seiner besten Position steht, war sekundär. Charles Pickel musste zum ersten Mal in seiner Karriere am Flügel ran. In der Kabine war es ruhig, aber ich habe in die Augen der Spieler geschaut und gespürt, dass sie denken wie Menschen, die alles verloren haben in ihrem Leben. Schauen sie: Wenn sie ein Haus bauen, schützen sie es vor Einbrechern. Wenn sie ein neues Auto kaufen, ist ihre grosse Sorge, dass es einen Kratzer bekommt. Wenn Sie neue Schuhe tragen, gehen sie jeder Pfütze aus dem Weg. Warum? Weil sie etwas zu verlieren haben. Aber wer nichts zu verlieren hat, der hat keine Angst vor dem Tod. Genauso haben wir dann auch gespielt. Die paar Hundert Fans, die noch nach Aarau gekommen sind, haben das gespürt und die Mannschaft trotz der aussichtslosen Situation von der ersten Sekunde an angefeuert. Dass der Gästesektor im Brügglifeld halb leer blieb, war doch klar: Ich als Fan hätte mir auch gut überlegt, für 40 Franken an diesem heissen Tag nach Aarau zu fahren oder doch lieber im Garten den Grill anzumachen.
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In der 20. Minute geht Xamax 1:0 in Führung, Torschütze ist Geoffroy Serey Dié. «Das war der Moment, in dem der ganze Glaube an die Wende zurückgekehrt ist», so Henchoz. Fortan tigert er wie ein Aufziehmännchen der Seitenlinie entlang, peitscht seine Spieler an und sieht, wie mit jedem weiteren Tor das Selbstbewusstsein aus den Körpern der Aarauer entweicht.
Drei Tage haben die Spieler von Aarau von allen Seiten gehört, dass sie praktisch in der Super League sind, in der Stadt war alles vorbereitet für die Aufstiegsparty. Der eine oder andere Spieler war mit dem Kopf vielleicht schon beim Köpfen der Champagner-Flaschen. Nicht falsch verstehen: Das wäre bei mir genauso gewesen, nach einem 4:0 im Hinspiel ist dieses Denken absolut normal. Ich habe von Anfang an gespürt: Die Aarauer spielten mit der Angst im Bauch, alles zu verlieren. Das pure Gegenteil von meinen Spielern, sie rannten einfach um ihr Leben.
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Als kurz vor 19 Uhr das Wunder Tatsache wird, Xamax den Ligaerhalt geschafft hat und tout Aarau ins Tal der Tränen stösst, gibt es auch für Henchoz kein Halten mehr. Er umarmt alle, die ihm in die Quere kommen. «Ich wusste nicht, wohin mit meinen Gefühlen, wusste nicht, ob ich weinen oder lachen soll. Es war so intensiv, kaum auszuhalten und einfach nicht zu glauben.» Erst auf der Fahrt nach Neuenburg kommt Henchoz zur Ruhe und reflektiert ein erstes Mal, was an diesem 2. Juni vor sich ging.
Wenn Patrick Rahmen, mein Trainerkollege beim FC Aarau, sagt, er könne nichts erkennen, was seine Mannschaft an diesem Tag falsch gemacht habe – ja, ich gebe ihm recht. Die Fussballgötter haben das so gewollt. Fussball ist irrational, nicht zu erklären. Taktik, Pech, Schiedsrichter – alles Blablabla an diesem Tag – es musste einfach so kommen. Das Stadion Brügglifeld wird mein Leben lang ein besonderer Ort bleiben, dieser Tag war ein Lehrstück für den Fussball, nein, mehr noch: ein Lehrstück für das Leben.
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Auch wenn das Brügglifeld-Stadion für Sion-Trainer Stéphane Henchoz immer ein besonderer Ort sein wird (siehe Text oben) – für ihn kommt die Rückkehr zu früh: «Aarau ist das schwerste Los, das wir bekommen konnten. Auf dem Papier sind wir Favorit, weil wir eine Liga höher spielen, aber das heisst in diesem Match nichts.» Auch Aarau-Trainer Patrick Rahmen wäre Sion gerne aus dem Weg gegangen: «Sion ist zweifellos ein attraktiver Gegner. Aber ich wäre in der zweiten Runde gerne nochmals als Favorit gegen einen unterklassigen Gegner angetreten. Trotzdem haben wir Chancen auf eine Überraschung.» Für Spannung ist im Brügglifeld gesorgt – wer noch eines der begehrten Tickets ergattern will, sollte dies am besten im Vorverkauf tun (Infos auf www.fcaarau.ch). Etwas anders die Ausgangslage in Wohlen, wo der heimische Erstligist auf den Super-League-Sechsten Luzern trifft. Alles andere als ein Weiterkommen der Innerschweizer wäre eine Sensation. Wohlen-Trainer Thomas Jent: «Wir brauchen einen perfekten Tag, Luzern einen schlechten.»
-> Verfolgen Sie die Cup-Partien des FC Aarau und des FC Wohlen im Liveticker auf unserer Website. Beide Partien beginnen am Sonntag um 16 Uhr.