Die Oltner E-Commerce-Agentur MySign setzt seit zwei Jahren auf Holacracy – ein Unternehmenskonzept ohne klassische Hierarchien.
Es ist kaum zu glauben: Ein Unternehmen läuft rund und floriert, ohne dass ein Chef den Takt angibt. Möglich macht das Holacracy – ein Unternehmenskonzept, das hauptsächlich auf die Eigenverantwortung der Angestellten setzt. Befugnisse und Entscheidungsfindung werden auf sich selbst organisierende Teams beziehungsweise Kreise verteilt anstatt über eine traditionelle Management-Hierarchie. In Olten setzt das 1998 gegründete Unternehmen MySign, eine E-Commerce-Agentur mit einer 45-köpfigen Belegschaft, auf diese agile Organisationsform.
Auf der Suche nach einer neuen Betriebsstruktur, welche die Innovationskraft von MySign steigern sollte, sei das Unternehmen vor rund zwei Jahren mit viel Enthusiasmus ins Abenteuer Holacracy gestartet, stellt Mitinhaber Reto Baumgartner gegenüber dieser Zeitung fest. Der Start sei erfolgt mit Unterstützung des österreichischen Beratungsunternehmens «Dwarfs and Giants» (Zwerge und Riesen), welches Unternehmen bei der Einführung und Umsetzung begleite. Mit dem viertägigen Training von «Dwarfs and Giants» für die ganze Belegschaft ist laut Baumgartner «der Grundstein für einen erfolgreichen Entwicklungsprozess» gelegt worden: «Nach diesem Meeting hatten alle den gleichen Informationsstand – von den Inhabern bis zu den Lernenden.»
Seit diesem Training wird bei MySign nicht mehr von Teams, sondern von Kreisen gesprochen. In diesen werden keine hierarchischen Positionen, sondern ausschliesslich prozessorientierte Rollen verteilt. Jede Rolle hat einen klaren Zweck und präzis definierte Verantwortlichkeiten. Man begegnet sich rundum auf gleicher Augenhöhe, und niemand kann sich ein Übermass an Macht und Einfluss aneignen. Inzwischen besteht das Unternehmen aus sechs Kreisen mit je fünf bis zehn Mitarbeitenden und insgesamt 200 Rollen. Im Durchschnitt sind es somit etwa fünf Rollen pro Person. Gemäss Baumgartner gibt es jedoch grosse Unterschiede: «Es hat Leute mit zwei bis drei Rollen, andere mit bis zu zehn.» Für die Zuteilung und den Entzug der Rollen im Kreis ist ein sogenannter «Lead Link», eine wichtige Rolle in jedem Kreis, zuständig. Eine Rolle kann übrigens von einem Mitarbeitenden auch abgelehnt oder abgegeben werden. Auch dies ein wichtiger Unterschied zu einer klassischen Organisation.
Für Reto Baumgartner hat sich der Wechsel in jeder Beziehung gelohnt: «Die Leute schätzen das selbstständige, eigenverantwortliche Arbeiten.» Und dass die Innovationskraft gestärkt werde, zeige unter anderem die Tatsache, dass aus einer Kreisentwicklung heraus bereits ein neuer Unternehmensbereich entstanden sei: Das User Centered Design – nutzerzentriertes
Der fundamentale Change-Prozess von einer herkömmlichen Unternehmensstruktur hin zu Holacracy verlangt dem betroffenen Personal viel ab. Entsprechend stark sind bei einem solch tiefgreifenden Wandel auch die Personalverantwortlichen gefordert. Bei MySign ist das vor allem Nicole Schenk, die an der Seite von Reto Baumgartner im Bereich Human Ressources die entsprechenden Rollen einnimmt. Schenk betont gegenüber dieser Zeitung, dass es, wie bei jedem anderen Veränderungsprozess, anfänglich Ängste, Verunsicherungen und Widerstände gegeben habe. Die Umgewöhnung von hierarchisch eingeordneten Positionen zu prozessorientierten Rollen sei eine Herausforderung.
Doch nach zwei Jahren Entwicklung und Erfahrung könne man sagen: «Die Sache hat sich in jeder Beziehung gelohnt, auch für das Personal.» Das hierarchiefreie Funktionieren werde sehr geschätzt. Das zeige sich auch bei Bewerbungsgesprächen, unterstreicht Nicole Schenk: «Innovative, junge Leute suchen Jobs, in denen sie sich selbstverantwortlich weiterentwickeln können.» Und es sei überhaupt kein Nachteil, wenn man ihnen keine Führungslaufbahn, wie in einem traditionellen Unternehmen, aufzeigen könne. Im Gegenteil: «Eine Organisation, in der Manager überflüssig sind, und sich alle auf gleicher Augenhöhe begegnen, erscheint jungen Leuten attraktiv.» Vor allem jenen, die mit Leidenschaft ans Werk gehen, weniger klassische Karrieristen. Holacracy öffne die Türen für Eigenständigkeit und Entfaltung.
Natürlich sei auch ein Holacracy-Unternehmen nicht gefeit vor Personalproblemen, wie es sie bei andern Betrieben mit herkömmlichen Organisationsformen ebenfalls gebe. Im Vergleich zur Vor-Holacracy-Zeit stellt die HR-Fachfrau jedoch keine negative Veränderung fest. Den Teamgeist, der bei MySign seit je stark verankert sei, und die vielen guten zwischenmenschlichen Verbindungen, sieht Schenk als wirksamen Ausgleich zur doch sehr stark reglementierten und prozessorientierten holokratischen Organisationsform. Signifikant verändert habe sich aber etwas anderes: «Durch mehr Eigenständigkeit sind Eigeninitiative und Innovationskraft gestiegen.» Das sei entscheidend für die Zukunft von MySign in einem immer härter umkämpfteren Markt. Holacracy ist für Schenk «eine Organisationsform am Puls der Zeit».
Gestalten. Beim ersten «Holacracy-Kind» von MySign handle es sich um ein Entwicklungsverfahren für Websites, Webshops, Applikationen und weitere Produkte, bei dem die künftigen Endnutzer der Lösung von Beginn an in den Entwicklungsprozess miteinbezogen werden. Durch dieses Verfahren werde sichergestellt, so Baumgartner, dass die Projektstrategie, der Seitenaufbau und die Inhalte, deren Form und Design auch den tatsächlichen Bedürfnissen der Endnutzer entsprächen.
Reto Baumgartner verhehlt nicht, dass es im Zusammenhang mit der Umstellung auf Holacracy auch zu Abgängen in der Belegschaft gekommen sei. Es handle sich allerdings nur um Einzelfälle, bei denen jemand mit den Veränderungen nicht zurechtgekommen sei oder nicht in diese neue Organisationsform gepasst habe. Holacracy sei nämlich ein Betriebssystem, das ein sehr starkes Regelwerk habe, vollständig pozessorientiert funktioniere und sich nicht um Persönlichkeiten kümmere. Die grösste Herausforderung bei Holacracy sei das Umlernen: «Interaktion findet nicht mehr zwischen Personen, sondern ausschliesslich zwischen Rollen mit klaren Verantwortlichkeiten statt.» Dabei müsse man aber auch Räume finden, in denen die Mitarbeitenden weiterhin persönliche Beziehungen pflegen könnten. «Was bei Beginn des Prozesses sehr ungewöhnlich war, hat sich sukzessive zur Normalität entwickelt», betont Baumgartner. Der Change-Prozess sei aber für alle sehr anspruchsvoll. Vor allem auch der damit verbundene Wechsel von Hierarchien zu Kreisen und Rollen, in denen Abläufe und Verantwortlichkeiten weit detaillierter beschrieben sind als in jeder herkömmlichen Organisationsstruktur. Dieser Wandel habe die Zusammenarbeit, aber vor allem auch die Meeting-Kultur nachhaltig verändert. Die Holacracy-Meetings erfolgten in einem rigiden Rahmen prozessorientiert und seien mit klaren Verhaltensregeln so ausgelegt, dass sich Alphatiere nicht einfach durchsetzen könnten.
Eine Umstellung ergab sich auch für Reto Baumgartner, Mike Müller und Urs Koller, die früher als Geschäftsleitung walteten. Heute sind sie zwar Verwaltungsräte und Inhaber von MySign und auf dieser Stufe bleiben die Verantwortlichkeiten wie früher klar geregelt. Jedoch haben auch die drei Inhaber wie alle anderen ihre Rollen innerhalb der neuen holokratischen Struktur. Bei Reto Baumgartner sind dies Rollen im Bereich Marketing/Kommunikation, Kultur und Personal. Ausserdem ist er der Lead Link des äussersten Kreises, des sogenannten Unternehmenskreises. Mike Müller besetzt Rollen, die sich um die Bereiche Innovation und Entwicklung sowie Finanzen kümmern, ist jedoch inzwischen hauptverantwortlich für das Start-up Ticketfrog (heute Eventfrog). Und Urs Koller besetzt Rollen, die sich in erster Linie um das Kundengeschäft kümmern und führt daneben noch die Tochterfirma VJii Productions AG.
Hat sich also für die ehemalige Geschäftsleitung gar nichts geändert? Baumgartner konstatiert: «Die meisten Aufgaben und Verantwortlichkeiten der früheren Geschäftsleitung haben wir tatsächlich nach wie vor inne, sie sind jedoch ebenfalls ganz klar in Rollen abgebildet und mit konkreten Verantwortlichkeiten beschrieben.» Es sei nachvollziehbar, dass dies zur Zeit so sei, denn schliesslich lägen hier, also beim unternehmerischen Gespür, bei der technologischen Entwicklung, im Kundengeschäft und bei der Personalverantwortung, die Kernkompetenzen der drei Gründer. Es zeige sich aber bereits jetzt, dass einige dieser Rollen oder einzelne Verantwortlichkeiten mehr und mehr auf andere Mitarbeitende übergingen. Gerade im Personalbereich, in der Produktentwicklung oder in der Innovation. Genau das zeichne Holacracy auch aus, «dass sich die Organisation laufend und in kleinen Schritten, man spricht von evolutionär, verändert und weiterentwickelt».
Der heutige Verwaltungsrat hat die übergeordnete Budgetverantwortung, legt die Löhne fest, kümmert sich um die Strategie und die Netzwerkpflege. Betreffend Löhne weist Baumgartner darauf hin, dass sich eine gewisse Umverteilung ergeben habe, weil die frühere Stufe der Teamleiter weggefallen sei: «Dafür stiegen andere Löhne durch die Übernahme von mehr Verantwortung und grossem Engagement.» Das Lohngefüge bei MySign umfasse drei Lohnbänder (Junior, Professional, Senior), die für eine gewisse Überschaubarkeit im Gehaltswesen sorgten. Doch eine vollständige Lohntransparenz gebe es nicht. Und: Von einem guten Geschäftsergebnis können laut Baumgartner bei MySign nicht nur die Inhaber profitieren, sondern über einen Erfolgsbonus sämtliche Mitarbeitende.
Zwei spezielle Knackpunkte bei der Umsetzung von Holacracy und dem Wegfall der klassischen Vorgesetzten sind gewesen: das Feedback an und die Beurteilung von Mitarbeitenden sowie der Umgang mit Kündigungen. «Bei uns kann heute jeder Mitarbeitende selber entscheiden, wer ihn beurteilen soll», sagt Baumgartner, darauf hinweisend, dass diese Beurteilungen nicht lohnwirksam seien, sondern der persönlichen Weiterentwicklung dienten. Beigezogen zu Mitarbeitergesprächen werde auch jemand aus dem Bereich Human Ressources, den Reto Baumgartner mit Nicole Schenk in ihren jeweiligen Rollen verantworten. In Zukunft sieht Baumgartner ein System auf der Basis eines direkten und kontinuierlichen Mitarbeiter-Feedbacks, was am nutzbringendsten sei.
Zum Thema Kündigungen: Diese erfolgen in der neuen holokratischen Organisation nach einem sehr transparenten Prozess. Zu einer Kündigung kann es kommen, wenn jemand einer ihm übertragenen Rolle nicht gerecht wird und diese ihm durch einen «Lead Link» eines Kreises entzogen wird. Baumgartner erläutert: «Wenn jemandem eine Rolle entzogen wird, dann folgen mehrere genau definierte Schritte, innerhalb derer versucht wird, für diesen Mitarbeiter innerhalb der Organisation neue Rollen zu finden, die er füllen kann.» Gelinge das nicht, erfolge am Ende des Prozesses zwangsläufig die Kündigung.
Für die Weiterentwicklung von Holacracy setzt Reto Baumgartner auch auf den Erfahrungsaustausch mit andern Unternehmen dieser Art. In der Schweiz gebe es derzeit ungefähr ein Dutzend Holacracy-Unternehmen, weltweit etwa 400. Doch Holacracy sei in vielen Unternehmen ein Thema, sogar auf Abteilungsebene bei SBB, Post und Swisscom. Die Entwicklung bei MySign sei noch lange nicht abgeschlossen. Und man müsse auch immer wieder aufpassen, dass keine Schattenstrukturen entständen und man in alte Muster zurückfalle. Baumgartner ist überzeugt: «Holacracy ist ein sehr gutes Unternehmenskonzept für die Förderung von Innovation sowie von Eigenständigkeit und Eigeninitiative der Mitarbeitenden.» Das wirke sich auf das Unternehmen aus. «Vielleicht sind auch die Auszeichnungen, die MySign und deren holokratische Tochter Ticketfrog AG in den letzten Jahren erhalten haben, ein Beweis dafür», stellt Baumgartner mit einem Augenzwinkern fest.