Die Oltner Stadtbibliotheks-Leiterin Sibylle Scherer wird Ende August pensioniert. Sie blickt in die Vergangenheit und äussert sich zur Zukunft des Instituts. An die Stadt hat sie mehrere Forderungen.
Ihr ganzes Berufsleben hat Sibylle Scherer in der Stadtbibliothek in der Oltner Altstadt verbracht. Insgesamt waren es 391⁄2 Jahre. «Ich schaue wahnsinnig gerne zurück», sagt die heute 63-Jährige, die Ende Woche pensioniert wird. Die Stelle habe ihrem Naturell entsprochen. Die studierte Altphilologin konnte zum einen für sich arbeiten und sich auf Details wie die richtige Katalogisierung konzentrieren. Andererseits hatte sie Kontakt mit den Besuchern. Rund 150 bis 200 Personen sind es durchschnittlich pro Tag. Trotzdem gehe sie ohne weinendes Auge. «Einmal ist einfach genug», sagt Scherer, die in den letzten vier Jahrzehnten immer 100 Prozent gearbeitet hat und seit 2015 das Institut führt. «Die Stadtbibliothek war mein Kind.»
In den nächsten Jahren kommen Veränderungen auf die Stadtbibliothek zu. Eine Studie der Churer Hochschule für Technik und Wirtschaft hat gezeigt, dass sich das Institut wandeln müsste zu einem dritten Ort neben dem Arbeitsplatz und dem Zuhause, wo man sich aufhalten und begegnen kann und kulturelle Veranstaltungen stattfinden. Scherer begrüsst dies, warnt aber auch davor, dass man die langjährigen und älteren Benutzer nicht verlieren darf. «Die Studie hat auch gezeigt, dass 91 Prozent der Benutzer mit uns zufrieden sind.» Zudem hätte die Stadtbibliothek mit dem Lesesaal mit einer grösseren Auswahl an Zeitungen und Zeitschriften, den Studienkabinen und dem kostenlosen WLAN-Zugang schon heute einen Anstrich eines dritten Ortes. Selbst Kaffee könne man anbieten. Nicht zuletzt gab es früher bereits Veranstaltungen im Parterrebereich, bevor die neuen Medien wie DVDs oder Computer den Platz für sich beanspruchten.
Aus ihren Äusserungen wird klar, dass sie froh ist, dass nun ihre Nachfolgerin Dorothee Windlin die Stadtbibliothek vom «20. ins 21. Jahrhundert» führen darf, wie Scherer es ausdrückt. Sie selbst hat nämlich bereits den Schritt vom «19. ins 20. Jahrhundert» mitgemacht. Als Scherer im Frühling 1980 ihre Stelle antrat, habe es geheissen, jetzt würde dann umgebaut. Schliesslich dauerte es trotzdem noch über ein Jahrzehnt, bis das Institut sich von der Magazin- zur Freihandbibliothek wandelte. 1993 wurde das umgebaute Gebäude in der Hauptgasse bezogen, nach 2 Jahren Exil in der Rötzmatt.
«Das war fantastisch», erinnert sie sich heute noch gerne an diese Zeit zurück. Bibliothekare aus der ganzen Schweiz hätten sich den Umbau, der rund 5 Millionen Franken gekostet hatte, angeschaut. Statt dass die Mitarbeiter jedes einzelne Buch selbst aus dem Magazin holen mussten, konnten die Benutzer von nun an selbst in den Regalen stöbern und die gewünschten Titel zusammensuchen. Heute geht der Trend laut Scherer sogar Richtung Selbstausleihe. Die Benutzer könnten künftig ihre Bücher selbst verbuchen. Ob dies aber die gewünschte Entlastung für das knapp dotierte Team bringt, bezweifelt sie. In ihren Augen wäre es wichtiger, möglichst bald mehr als die derzeit bewilligten 300 Stellenprozente zu erhalten. So könnte die Stadtbibliothek auch die viel kritisierten Öffnungszeiten von nur 24 Stunden pro Woche erhöhen. Auch sie würde unter der Woche lieber über Mittag oder abends länger offen haben – gerade als Pendlerstadt.
Zudem fordert sie den Stadtrat auf, sich bald verbindlich zu äussern, an welchem Standort die Stadtbibliothek künftig mit der Jugendbibliothek zusammengeführt werden soll – ebenfalls eine Schlussfolgerung der erwähnten Studie. «Damit hätten wir und die Öffentlichkeit eine Zukunftsperspektive – und bisher aufgeschobene Sanierungen könnten begründet werden.» Mit der vom Stadtrat geäusserten Idee eines Umzugs ins Hübelischulhaus könnte sie sich sehr gut anfreunden. Allerdings sei dies nicht neu, man habe schon vor Jahren davon gesprochen. «Meine Angst ist, dass es ein ähnliches Hin und Her gibt wie beim Kunstmuseum-Standort.» In ihren Augen haben die damaligen Entscheidungsträger nämlich einige gute Gelegenheiten verstreichen lassen. Sie spricht vom Kulturzentrum auf dem Gelände beim Bahnhof Nord – einer Idee aus den 1980er-Jahren –, unter dessen Dach neben Stadt- und Jugendbibliothek auch die Museen Platz gehabt hätten. Oder vom verpassten Kauf des Nachbarhauses in der Altstadt, was bereits vor Jahren die Fusion von Stadt- und Jugendbibliothek am selben Standort ermöglicht hätte. «Es war immer das fehlende Geld», bedauert sie Entwicklungen, die nicht mehr rückgängig zu machen sind.
So gesehen, passt auch der Titel ihrer derzeitigen Lektüre zur Situation der Stadtbibliothek – sie liest Alain Claude Sulzers «Unhaltbare Zustände», ihr zeitgenössischer Schweizer Lieblingsautor. Scherer wird auch im Ruhestand eine passionierte Leserin bleiben sowie Buchhandlungen und Bibliotheken in anderen Städten besuchen. Reisen werde ein Thema sein. Und der Luxus, «am Mittwochnachmittag spontan einen Kaffee trinken zu gehen, ohne auf die Zeit schauen zu müssen».