Olten
Mutter und Tochter geben auf der Stadttheater-Bühne ein zeitloses Kammerspiel

Das einzige Gastspiel in der Schweiz: Bei «Die Glasmenagerie» sind drei Generationen der Thalbach-Familie involviert.

Elisabeth Feller
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von links: Sven Scheele, Anna Thalbach, Louis Held, Nellie Thalbach.
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Stadttheater Olten - die Glasmenagerie
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Remo Fröhlicher

Die Zeit zurückdrehen – wenn man das bloss könnte. Einer kann’s – Tom (Louis Held). Bevor er mit uns eintaucht in eine vergangene Zeit, führt er Zaubertricks vor. Der dazu gespielte, harte Schlagzeugbeat von Emanuel Hauptmann lässt erahnen, dass wir uns nicht in einer leicht daher kommenden Geschichte wähnen dürfen, obwohl Tennessee Williams› «Die Glasmenagerie» so verspielt anmutet.
Als Erzähler der Geschichte fungiert also Tom: Ein junger Mann, der mit seiner Mutter Amanda Wingfield (Anna Thalbach) und seiner leicht gehbehinderten Schwester Laura (Nellie Thalbach) in den dreissiger Jahren in St. Louis mehr schlecht als recht durchkommt. Der Vater ist abgehauen: Was von ihm bleibt ist ein Foto; sind alte, zerkratzte Schallplatten und Erinnerungen. Vor allem Amanda pflegt diese mit einer oft das (Selbst-)Zerstörerische streifenden Energie, die es dem Umfeld verunmöglicht, diese Frau auszuhalten.
Deshalb geht Lagerarbeiter und Möchtegern-Autor Tom jeden Abend ins Kino, um zu träumen; deshalb kümmert sich die schüchterne, lebensuntüchtige Laura primär um ihre Sammlung fragiler Glastierchen, von denen ihr liebstes – das Einhorn – am Ende zerbricht. Und dann gibt es noch Toms Freund, Jim (Sven Scheele: ebenso selbstsicher wie unsicher), der nur deshalb eingeladen wird, damit sich zwischen ihm und Laura etwas anbahnt. Aber Jim ist in festen Händen: Sie heisst Betty und ist all das, was Laura glaubt, nie sein zu können – eine attraktive, junge Frau, die von einem Mann geliebt und geheiratet wird.
Das ist die eine Geschichte, die Williams erzählt; die andere ist die politische, in wenigen Sätzen skizzierte. Tom verweist als Erzähler auf Guernica und Deutschland, wo sich Unheilvolles tut. In den USA aber hört die Jugend Jazz, trinkt Schnaps (nicht zu knapp) und hat Lust auf Abenteuer. Williams «Spiel der Erinnerungen» wurde 1944 uraufgeführt. Ist es heute noch zeitgemäss? Sicher – vor allem dann, wenn eine Regisseurin wie Katharina Thalbach auf eine Aktualisierung verzichtet, da ohnehin vieles aktuell, vielmehr zeitlos ist: schwierige familiäre Beziehungen; die Unfähigkeit zur Empathie; Leid; Verkennung der Realität, stattdessen Flucht in Träume.
Dafür hat Bühnen- und Kostümbildner Ezio Toffolutti eine wunderbar aussagekräftige Szenerie entworfen: weisse, luftige Vorhänge, die immerzu bewegt werden – meistens, um etwas aus dem Blickfeld zu rücken. Nur einmal – bei Jims Besuch – werden die Vorhänge hochgesteckt, um Licht von draussen hereinzulassen. Deutet sich da etwa der Ausbruch aus der Isolation an? Nein, am Ende kauern Amanda und Laura am Boden und wissen: Diesmal sind die Scherben nicht mehr zu flicken.
Solches rührt an und bewegt – wie die gesamte Inszenierung, die ein Ensemble trägt, das sich bewundernswert auf dem Grat zwischen Tragik und Komik bewegt. Die 65-jährige Katharina Thalbach hat Williams’ Kammerspiel fein orchestriert. Ihre 45-jährige Tochter Anna Thalbach spielt den aufgekratzten Optimismus und die permanente Verleugnung der Realität stimmlich und gestisch so, dass wir unsicher sind: Ist uns Amanda unsympathisch oder doch sympathisch, weil wir ihre Situation verstehen und für sie Mitleid empfinden? Und die 24-jährige Nellie Thalbach – sie ist die Tochter von Anna – spielt den im Kokon der Glasmenagerie-Fantasie eingesponnenen Konterpart stimmlich hauchzart und am Ende mit Gesichtszügen, die fast in Zeitlupe entgleisen. Louis Helds Tom surft auf Gefühlswellen: Frust und Zorn halten sich die Waage, doch zum Schluss obsiegt die Einsicht: Keiner kann vor seiner Familie davonlaufen; sie bleibt ihm erhalten – in der Erinnerung.