Die Vergänglichkeit steht in Olten auf einer Rampe. Mitten im Leben, zwischen Blumenrabatten und einem Hundeversäuberungsverbot zweigt sie ab und führt zum Lieferanteneingang des Martins-Heims. Neulich schaukelte dort, an die Betonwand gedrängt, ein Schaukelstuhl ins Leere, stand ein Rollator einsam da, war ein weisser Tisch ungedeckt, stand ein Stuhl quer auf einem andern.
Es sind die letzten Dinge, die bleiben, wenn im Heim jemand auszieht, also stirbt. Im Schnitt geschieht das zwei Jahre nach dem Einzug, sagt der Heimleiter Urs Hufschmid am Telefon. Es komme aber auch vor, dass Leute mit einer Lebenserwartung von einer einzigen Woche zu ihm gebracht würden. «Das ist nicht schön, eigentlich wären diese Patienten in einem Sterbehospiz am richtigen Ort. Aber solange es in Olten kein solches gibt, tun wir, was wir können.»
Es gebe aber auch Bewohner, die jahrelang in einem der 70 Zimmer wohnen, jemand sei sogar seit mehr als zehn Jahren da. Tritt jemand ins Alters- und Demenzzentrum St. Martin ein, wie die Einrichtung seit drei Jahren heisst, kann er eigenes Mobiliar mitbringen. «Oft ist es ein Lieblingsstück: Ein Sessel, in dem es ihnen wohl ist. Das Telefon von daheim. Oder, wenn jemand die Buchhaltung noch selber machen kann, eine kleine Kommode mit Schubladen, in denen er das gelbe Postbüechli verräumen kann.»
Ein solches Kommödeli, knallrot mit chinesisch anmutenden Beschlägen, stand vergangene Woche auf der Rampe der Vergänglichkeit. Wer weiss, was bis vor kurzem in den sechs winzigen Schubladen lag: Schokolade für die Enkelkinder. Ein Stück Vulkanstein, verbotenerweise mitgebracht von einer längst vergangenen Reise. Die überfällige Steuerrechnung, die Todesanzeige der besten Freundin. Hustenbonbons. Nie abgeschickte Briefe. Wer weiss.
Die Zimmer in seinem Heim seien klein, sagt der Heimleiter Hufschmid fast entschuldigend. «Dafür haben wir mehr Personal als die meisten anderen Einrichtungen.» Aber immerhin: Zu jedem Zimmer gehört ein eigener Balkon.
Als das Haus 1975 vom aus Olten stammenden Architekten Elmar Kunz gebaut wurde, war das ein Wurf, der in Fachzeitschriften besprochen und gelobt wurde. Mit den Jahren ist die Fassade ergraut, an vielen Balkonen fehlen die gestreiften Storen von früher, die dem Haus den Touch einer italienischen Feriensiedlung gegeben haben.
Für nächstes Jahr ist nun eine gründliche Sanierung inklusive Wärmedämmung angesagt. Heimleiter Hufschmid freut sich darauf – und auch darüber, «dass sich der bald 90-jährige Architekt noch immer für sein Werk interessiert und uns beratend zur Seite steht». Statistisch gesehen werden nicht alle der heutigen Bewohnerinnen und Bewohner noch da sein, wenn die Fassade ihren alten Glanz zurückhat.
Stirbt jemand, so haben die Angehörigen ein paar Tage Zeit, das Zimmer zu räumen. Was zurückbleibt, übernimmt das Heim. «Wir sind dankbare Erben», sagt Hufschmid. «Es gibt ab und zu Leute, die mit nichts zu uns kommen. Sei es, weil der Partner im alten Daheim bleibt und das Mobiliar nicht mitkann. Oder weil sie nichts Brauchbares haben. Keine Kleider, keine Möbel, nichts. Man spricht nicht gerne über das Thema, aber das Messitum gibt es häufiger, als man denkt.»
Was übrig bleibt, wird auf Ricardo versteigert. «Das bringt nicht viel Geld, aber manchmal mehr als die Entsorgung kosten würde», sagt er. Und der Rest geht auf die Rampe. Die Rollatoren, Stühle und Tabourettli bleiben dort, bis es Dienstag wird und die Abfallentsorgung vorfährt. Es sei denn, jemand war schneller. So ist es dem knallroten Kommödeli ergangen, das eines morgens nicht mehr da war.