Kirchenglocken begleiten mein sonntägliches Schreiben dieser Zeilen. Es ist kurz vor 15 Uhr. Ich frage mich, was der Anlass des Geläutes ist. (Damit bin ich nicht allein. Später fragt mich meine Nachbarin, ob ich da mehr wüsste.) Was wurde wohl gefeiert, um 15 Uhr; in einer der Kirchen im Bifangquartier – in der Marienkirche mit ihrem eigenwilligen Wandbild, in der Friedenskirche mit ihrem hölzernen Inneren?
Freude, Trauer – oder beides? Olten ist geprägt von etlichen Kirchen, akustisch und optisch. Zum Teil tragen sie auch die gleichen Namen. Unvergessen jener Sonntagmorgen, ungefähr zwei Monate nach unserem Umzug nach Olten, an welchem ich meine Tochter zum Chorauftritt in die Martinskirche begleitete. Wir landeten in der Stadtkirche, wo ebenfalls ein Chor am Proben war. Wir wurden dann zur «richtigen» Martinskirche dirigiert – «einfach den beiden Türmen folgen»!
Verwirrt und etwas verspätet haben wir es dann doch noch geschafft. Dass bei der Stadtkirche der Martin nicht mehr so wichtig ist, sondern die Zentrumsfunktion, habe ich da gelernt. Die Türme dieser richtigen Martinskirche prägen die Silhouette Oltens. Ob ich von West oder von Ost her in den Bahnhof einfahre, die beiden Türme empfangen mich.
Letzthin überrollte mich auf einem abendlichen Spaziergang in meiner früheren Heimatstadt Bern Begeisterung beim Blick auf die Altstadt, das Münster, die Kuppel des Bundeshauses. Das ist schon unglaublich schön. Möchte ich aber wieder dort wohnen? Ja, vielleicht, aber auch in Basel könnte ich mir das vorstellen. Nachdenklich fuhr ich nach Hause.
Als der Zug dann über die Aare rollte, die beiden Türme in meinen Blick gerieten, da überkamen mich heimatliche Gefühle, die mich in ihrer Intensität doch etwas überraschten. Huch, ja, da bin ich zu Hause. Andere, auch ganz wunderbare Städte müssen warten!
Die Stadtkirche übrigens, vor wenigen Jahren frisch renoviert, ist für mich ein wunderbarer Ort der Ruhe geworden, um zu lesen, nachzudenken, zu beten, zu sein. Ein Ort aber auch der kurzen Abkühlung bei grosser Hitze.
In ihrer Schlichtheit lädt sie mich ein, den Gedanken freien Lauf zu lassen, ein Richtig oder Falsch scheint es in ihr nicht zu geben. Was für ein Ort für Veranstaltungen, in denen auch die Religion ihren Platz hat! Die Kirchenglocken sind verklungen. Kirchen prägen Olten. Zumindest akustisch und im Ortsbild ist das nach wie vor der Fall. Ihre Prägung der Gesellschaft wird weniger.
Ich könnte jetzt in ein langes und langatmiges Lamento einstimmen, das vielerorts ertönt, wenn es um das Thema geht. Wenn ich allerdings in die USA schaue, mit dem eben beschlossenen Urteil des Supreme Courts, dass die Staaten Schwangerschaftsabbrüche im Extremfall mit Mord gleichsetzen und entsprechend sanktionieren dürfen, wird mir in aller Deutlichkeit vor Augen geführt: Kirchlicher Einfluss, religiöser Einfluss, kann furchtbare und brutale Konsequenzen haben.
Er kann einengen, Mündigkeit beschneiden, lang erkämpfte Rechte wegfegen, Leben von Frauen – und Männern – zerstören. Immer wieder werde ich als Theologin mit dieser Seite von Kirche und Religion konfrontiert. Das beelendet mich. Denn kirchlicher und religiöser Einfluss kann und soll anders: Frauen – und Männer – befreien, befähigen, unterstützen und ermächtigen. Auf eigenen Wegen, in eigenen Entscheidungen, für ihre Rechte einzustehen.
Die Kirchtürme, sie stehen weiter da. Für die einen Menschen sind sie mit der befreienden Botschaft, für andere mit der zerstörerischen der Religion verbunden. Es ist an den Menschen, die in den Gebäuden feiern, das Befreiende zu stärken. Worte zu finden und laut auszusprechen: gegen die Entrechtung, die Rückkehr in finstere Zeiten. Es ist dringend nötig.
Als Menschen, die in Kirchen feiern, sind wir in diesen Tagen gefordert, einzustehen dafür, dass die Kirchenglocken nicht zum Geräusch der Angst, der Einschüchterung werden. Sondern der Hoffnung und Ermutigung.