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Die Turmrede von Franz Hohler zu den 30. Oltner Kabarett-Tagen im Wortlaut. Von seinem Aufwachsen in der Dreitannenstadt, ersten literarischen Versuchen im Oltner Tagblatt und Kostproben seiner Werke.
Seien Sie gegrüsst, meine Damen und Herren, die Sie sich auf dem Ildefons-Platz in Olten versammelt haben, in Olten, das ja nicht einfach eine Eisenbahstadt ist, obwohl von der "Betriebszentrale Mitte" aus der Bahnverkehr der halben Schweiz geregelt wird, und auch nicht einfach eine Bildungsstadt, obwohl hier 16 "Bildungsanbieter" und "bildungsnahe Unternehmen" an der Arbeit sind, auch nicht bloss eine Dreitannenstadt, - da muss sich jemand verzählt haben - und eine Kabarettstadt ist sie nur an einigen Tagen im Jahr, nein, Olten ist eine Literaturstadt.
Das erstaunt Sie jetzt vielleicht ein bisschen, denn Goethe ist auf keiner seiner Schweizerreisen hier vorbeigekommen, und Thomas Mann war nur einmal da, auf einer Lesetour 1934, am Bahnhof abgeholt hat ihn, wie er im Tagebuch schrieb, "der freundliche Dr. Burkhart", der später im Progymnasium mein Geschichtslehrer war und dem ich das Adjektiv "freundlich" aus der Feder des Dichters gerne gönne, obwohl es nicht ganz meiner eigenen Erinnerung entspricht - aber schliesslich hat er mich auch nicht am Bahnhof abgeholt.
Genächtigt hat der Nobelpreisträger im "Aarhof" und hat sich geärgert, weil sein Zimmer nicht geheizt war. Am nächsten Tag fuhr er nach Burgdorf weiter, und über Olten schrieb er in sein Tagebuch: "Am Morgen kurzer Rundgang durch dieses reizlose Städtchen." Haben Sie das gehört? Reizlos.. Dabei stand er wahrscheinlich auch hier unten, mitten unter Ihnen sozusagen, und schaute zu diesem Turm hinauf. Ich bin sicher, wäre sein Zimmer geheizt gewesen, hätte ihm das Städtchen besser gefallen.
Trotzdem, Olten ist eine Literaturstadt.
Falls Sie die entsprechende App Ihres Smartphones aktivieren, werden Sie zu einem kurzen Rundgang durch dieses Städtchen eingeladen, und wenn Sie das "Sesam öffne dich!" Ihres Displays auf eine der Tafeln drücken, die Ihnen Olten Tourismus gleichmässig über die ganze Stadt verteilt hat, hören Sie die Stimmen lebender Autoren, die Ihnen Texte lesen, in denen sie Leben in Literatur verwandeln.
Ich kann also eigentlich davon ausgehen, dass ich ein Publikum vor mir habe, das problemlos literarischen Texten zu folgen imstande ist - oder sonst machen wir einen kleinen Test, und ich trage Ihnen drei Gedichte vor, versuchsweise.
Frühfranzösisch - für Emmanuel Macron
nom de bleu
de pipe de pape
de crache de vache
de coucou de caca
de pipi de papa
de plouf et de plaf
de zic et de zac et de zouc!
Oh lala!
La Lou!
La Lilly!
La Loulou!
Le bébé!
Le bobo!
Le bonbon!
Qu'est-ce que tu penses
de la danse
et la chance
de la trance
dans toute la France?
Bien bien
pas de pain
dans le train
rien rien
dans les mains
pour les miens
et les tiens
et le chien.
und noch ein englisches - nicht für Donald Trump:
Summer
Everybody
wants to go
where nobody is
so
everybody is
where nobody was
and nobody is
where everybody was
and we can stay at home.
und das dritte:
Hommage
Als Arp
starp
blieb
was er schrieb
und malte
und formte
und klebte.
Er lebte.
Hallo Hans!
Es grüsst
Dein
Franz
Das war schon der Test für Fortgeschrittene, ich glaube, Sie haben ihn bestanden, und wir können zu einem einfacheren Text übergehen. Für mich, der ich hier aufgewachsen bin, war Olten immer eine Literaturstadt. Ich habe Literatur konsumiert, sobald ich lesen konnte, und ich habe Literatur produziert, sobald ich schreiben konnte. Möchten Sie mein erstes Gedicht hören?
Liebe zum Vaterland (ca. 1953)
O mein Heimatland, o mein Vaterland!
Gott schuf es mit eigener Hand.
Er machte Berge, er schuf Höh'n
O Heimatland, bist du doch schön!
Mächtige Gletscher schuf seine Hand
Reich von Eis, bis an den Rand.
Und dieses Land bebauten die Väter
Waldstätte nannte man es später.
Sie leisteten einen heiligen Eid,
der uns befreite von allem Leid.
Sie bezwangen die harten Vögte,
die wollten dass ihnen das Land gehörte.
Und jetzt noch wollen wir drin walten,
und dieses schöne Land behalten
Wir wollen frei sein wie die Väter waren
und nicht weichen vor allen Gefahren
Gott gebe uns dass dieses Land
noch weiter sei in unsrer Hand.
O Heimatland, o Vaterland!
Das habe ich als 9- oder 10-Jähriger geschrieben, und das könnte ich ohne weiteres an der nächsten Albisgüetli-Tagung der SVP vortragen. Gut, ich habe das Thema dann später ein bisschen variiert, etwa als ich "With God on our side" von Bob Dylan ins Schweizerdeutsche übersetzte:
(singen)
Das Land woni wohne
isch chly aber schön
s het Bärgen und Gletscher
und mägnisch chli Föhn
und s Schönschten isch das
dass me sicher cha sy
was immer au chunnt
der Liebgott isch derby
Sit em Rütlischwur weis me's
sit Laupe no meh
und ds Sempach hets au no
der Leopold gseh
der Winkelried isch nur
wäge däm e so dry
will men ihm vorhär gseit het
der Liebgott sig derby.
Wos rings um eus gchlöpft het
wär mänge gärn cho
zum sächs, sibe Johr lang
a Schärme cho schtoh
doch so nooch bim Herrgott
cha nid jede sy
mir hei ds Huus müesse bschliesse
und der Liebgott grad dry.
Es folgen noch vier weitere Strophen, doch wie gesagt, da war ich schon etwas älter.
Meine ersten literarischen Texte schrieb ich, als ich das Progymnasium im Froheim besuchte, und zu meiner Freude wurden sie im "Oltner Tagblatt" abgedruckt. Rückblickend war das für mich eine wichtige Ermutigung, denn es war ein erstes Signal dafür, dass man das, was ich schrieb, brauchen konnte.
"Eine Kuh verlor die Nerven" hiess etwa eine Glosse über die Sprache einer Zeitungsnachricht, und unter diesem Titel hat der Verleger Thomas Knapp, eine der tragenden Säulen unserer Literaturstadt, eine Sammlung meiner frühen Oltner Texte und Kurzgeschichten herausgebracht.
Wer schreibt, liest auch. Ich habe mich gern in der grossen Bibliothek meines Vaters bedient; als die Jugendbibliothek eröffnet wurde, gehörte ich zu ihren ersten regelmässigen Besuchern, las "Jan wird Detektiv" mit sämtlichen Fortsetzungen, und "Der 35. Mai", "Das doppelte Lottchen" und alles andere von Erich Kästner. Wenn ich ein Buch wirklich besitzen wollte, ging ich in die Buchhandlung Schreiber, die ich als enge, düstere Höhle in Erinnerung habe, in der die Bücher wie etwas Verbotenes auf den Regalen standen, und kaufte mir schon mal ein Buch von meinem Taschengeld, das ich mir mit Lateinstunden für Mitschüler verdiente. Eines der Bücher, die ich unbedingt haben wollte und auf das ich nicht bis Weihnachten warten mochte, waren z.B. die "Gesammelten Werke" des Münchner Komikers Karl Valentin.
Mich hatte schon als Gymnasiast die Form des literarischen Kabaretts fasziniert, und als ich mich 1965 mit meinem ersten Bühnenprogramm "pizzicato", heute würde man sagen, mit meiner ersten Spoken Word Performance, in die Welt der Kleinkunst begab, verabschiedete ich mich für ein Jahr von der Universität, um zu erproben, ob es sich als freischaffender Kulturnomade leben liess, und dieses Jahr dauert heute noch an. Ich war inzwischen zum Zürcher geworden, blieb aber doch Oltner. 1967 hatte ich mit meinem zweiten Programm "Die Sparharfe" Première im "Theater am Zielemp", ein Kellertheater in der früheren Stadtmauer, das man erreichte, indem man durch eine steile Treppe nach unten stieg und über die Bühne in den Zuschauerraum gelangte.
Schon damals brauchte jedes Theater einen Notausgang, und im Falle eines Brandes im 80-plätzigen Kellerraum hätte man zuerst eine Anzahl der hölzernen Klappstühle der Reihe 2 und 3 zur Seite schieben müssen, bei einem voll besetzten Theater mit Rauch- und Panikentwicklung bestimmt keine Kleinigkeit, hätte im hölzernen Boden eine hölzerne Klappe öffnen müssen, wäre über eine enge Holztreppe nach unten gestiegen, hätte dann eine Tür aufgedrückt und wäre zuletzt auf einer Plattform wenige Zentimeter über der Aare gestanden. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie die höchstens 10 Besucher, die dort Platz fänden, von den nachdrängenden Menschen in die Aare gestossen würden, wo sie im eiskalten Aarewasser - Theatersaison ist ja im Winter - strampelnd ertränken.
Zum Glück ist dieses Worst-Case-Szenario nie eingetreten, und heute sind die Oltner Kleintheater längst an komfortablere Orte umgezogen. Stünden Sie auf dieser Plattform, sähen Sie über der rechtsufrigen Häuserzeile, die sich von Swisscom über Alpiq bis zur Post erstreckt, die Dampffahne des Atomkraftwerks Gösgen aufsteigen und könnten sich Gedanken darüber machen, wo der Notausgang wäre, wenn es dort einmal, bei der Ausübung des Kerngeschäfts, zu einem Brand käme.
Mein "bärndütsches Gschichtli" habe ich übrigens dort unten zum ersten Mal aufgeführt, es feiert dieses Jahr seinen 50. Geburtstag. Der Rezensent der Zeitung "Das Volk" schrieb damals über meinen Vortrag des "Totemügerli" den denkwürdigen Satz "Sein Berndeutsch lässt zu wünschen übrig."
Und noch ein "übrigens": Im "Theater am Zielemp" fanden, nicht zuletzt auf Anregung von Peter André Bloch, auch er ein Säulenheiliger der Literaturstadt, die ersten Versammlungen der "Gruppe Olten" statt, einer lockeren Vereinigung von Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die Anfang der Siebzigerjahre als linke Alternative zum Schweizerischen Schriftstellerverband gegründet wurde - eben in Olten, der Literaturstadt.
Aber in diesen Tagen ist sie eine Kabarettstadt, und das ist kein Widerspruch.
Ich habe Kabarett immer für eine Form der Literatur gehalten, es ist die Form, die mit kurzen Texten, Szenen, Geschichten und Liedern die Welt, in der wir leben, kommentiert, karikiert und sabotiert, die Form, welche zu den Ausrufezeichen unserer Welt die Fragezeichen hinzufügt, die Form, welche den festen Grund unter unsern Füssen auf den Untergrund hin abklopft, die Form, welche unsere begriffliche Sicherheit lachend in Unsicherheit verwandelt, und das Beruhigende dabei: gemeint sind immer die andern.
Kabarettstadt, Literaturstadt, Kulturstadt?
Ich möchte mich von Ihnen mit einem Gedicht verabschieden.
Kulturkonzept
Ich hätte gerna
aus jedem Kindergarten
täglich
eine Zeichnung
von dem, was grade aktuell ist
sei es ein Hund
ein Frosch
ein Vogel
eine Maus
ein hoher Berg
ein Flugzeug
Rennautos
die Feuerwehr
Piratenschiffe
oder Schmetterlinge
und würde
diese Bilder streuen
in der Tagesschau des Fernsehns
zwischen
Kriege
Konferenzen
Hungersnöte
und auf die Titelseite
jeder Zeitung
müsste täglich
eine Kinderzeichnung
als Nachricht
die nicht berichtet
von dem, was war
nein, die berichtet
von dem, was sein will
oder könnte
damit wir endlich
sehen lernen
damit wir endlich
träumen lernen
damit wir endlich
wägen können
das Gewicht
der Welt.