Startseite
Solothurn
Olten
Im Herbst 1918 wütete die Spanische Grippe auch in Olten – das erste Todesopfer war ein 20-jähriger Rekrut.
Die Spanische Grippe im Jahr 1918 erfasste in der Schweiz rund zwei Millionen Menschen. In zwei Wellen forderte die Pandemie knapp 25000 Todesopfer, was 0,6 Prozent der damaligen Bevölkerung entsprach. Sie stellt damit die grösste demografische Katastrophe der Schweiz im 20. Jahrhunderts dar.
Die ersten Grippeerkrankungen in Olten, die Anfang Juni 1918 auftraten, erachtete man noch als harmlos, doch bald wurden die ersten Todesfälle bekannt. Das früheste Todesopfer, welches die Grippe in Olten forderte, war ein 20-Jähriger, der sich in der Rekrutenschule in Liestal angesteckt hatte. Als am folgenden Tag ein Töchterchen des bekannten Rechtsanwalts Wilhelm Carl Schlappner-Disteli an der Infektionskrankheit verstarb, verlangte der Schularzt Adolf Christen die Schliessung der Schulen.
Ende Juli flaute die Pandemie zunächst ab, die zweite Welle allerdings folgte im Herbst mit doppelter Intensität und erreichte im Oktober ihren zweiten Höhepunkt. Die Spanische Grippe war hochansteckend. Es kam dazu, dass die einfache Bevölkerung in den Kriegsjahren grosse Not gelitten hatte. Die oft mangelernährten Menschen konnten der Krankheit wenig Widerstandskraft entgegensetzen.
Um die Ausbreitung der Grippe zu bekämpfen, erliessen die Behörden ein Verbot sämtlicher Veranstaltungen und Versammlungen; das betraf Konzerte, Theater- und Kinovorstellungen oder Wochenmärkte ebenso wie Gottesdienste. Öffentliche Bestattungen fanden nicht mehr statt, nachdem die Regierung sogar die Bekanntgabe der Beerdigungszeiten untersagt hatte.
Den Unterricht liess man bis Ende Jahr ausfallen. In der Zwischenzeit war Homeschooling Trumpf. Die Primar- und Bezirksschulen schalteten Inserate in den Tageszeitungen und versorgten die Schulkinder auf diese Weise mit Hausaufgaben.
Die Frohheim- und Hübelischulhäuser wurden in Notspitäler umfunktioniert, nachdem das Oltner Kantonsspital überbelegt war und auch die militärische Sanitätsanstalt im Bifangschulhaus die vielen Kranken nicht mehr aufzunehmen vermochten.
Im Landestreik vom November 1918 standen zwei Waadtländer Bataillone mit rund 1000 Mann in Olten im Einsatz. Nach dem Abbruch des Streiks wurden sie nach Hause entlassen, allerdings waren Hunderte von ihnen an der Grippe erkrankt und mussten im Kantonsspital und in den Schulhäusern gepflegt werden. Manche starben an der Krankheit und wurden auf dem Ende 1917 eingeweihten Friedhof Meisenhard bestattet. «Fast täglich konnte man einen Zug Soldaten beobachten, die den Leichenwagen mit verstorbenen Kameraden bei gedämpftem Trommelklang auf den Bahnhof oder Friedhof begleiteten», erinnerte sich ein Zeitzeuge.
In den Städten wütete die Fieberkrankheit besonders stärk. 60 Prozent der Oltner Wohnbevölkerung – die Stadt zählte damals gut 10000 Einwohner – infizierten sich mit dem Grippevirus, 69 Personen starben. Wie verheerend die Seuche war, zeigt ein Vergleich mit der Lage zehn Jahre später. Im Winter 1926/27 zählte das Solothurner Sanitätsdepartement im ganzen Kanton 5544 Grippe-Erkrankungen und
12 Todesfälle.
Ohnmächtig mussten auch die Ärzte dem Sterben zusehen. Robert Christen, der zusammen mit seinem Bruder Walter die Arztpraxis ihres Vaters Adolf Christen an der Ringstrasse 30 weiterführte, erlebte alles hautnah mit. Die ersten Krankheitsfälle mit Katarrh und Husten schienen wenig bösartig. Doch im Frühsommer setzte die erste Grippewelle ein: «Die Erkrankungen mehrten sich von Tag zu Tag. Die ersten Todesfälle traten auf und brachten Unruhe und Aufregung in die Bevölkerung», erinnerte sich Robert Christen. «Sofortige Bettruhe im Anfangsstadium der Erkrankung wirkte sich günstig aus», stellte der Allgemeinmediziner fest. Allerdings: «Wer das nicht befolgte oder nicht befolgen konnte, musste mit Komplikationen rechen. Das war auch der Grund, warum viele jüngere Ärzte der Grippe erlagen, da sie ihre Tätigkeit pflichtbewusst weiter ausübten, als sie schon Fieber hatten.»
Dies galt wohl auch für die Soldaten, die damals Ordnungsdienst taten. «Die Spitäler waren überfüllt; es fehlte an Pflegepersonal, die Ärzte waren überanstrengt. Von morgens 6 Uhr bis Mitternacht dauerte die Arbeitszeit», schilderte Christen die Situation. «Jede Nacht ging das Telefon oder die Nachtglocke. Mit starkem Nasenbluten, hohen Fiebern mit Delirien begann die Erkrankung. Man erteilte Ratschläge und suchte zu beruhigen. Einige Stunden Ruhe musste sich der Arzt wenigstens in der Nacht gönnen. Das jungendliche Pflegepersonal, Hilfspflegerinnen, Samariterinnen erkrankten ebenfalls.
Man machte die Beobachtung, dass ältere, also über 50 Jahre alte Pflegerinnen von der Grippe meistens verschont blieben.» Bei ihnen war von der Influenzaepidemie aus dem Jahr 1889 eine Immunität vorhanden, vermutete Robert Christen. Hingegen litten Kinder an Keuchhusten in Verbindung mit der Grippe und starben fast alle an Lungenentzündung. Überhaupt sei es schwierig gewesen, Prognosen zu stellen: «Man sah einen Patienten mit scheinbar gutem Allgemeinbefinden mit wenig Befund – am folgenden Tag lag der Patient im Sterben.» Der Oltner Hausarzt Christen schloss seinen Bericht mit den Worten: «Jenes Grippejahr 1918 mit all seinen Schrecken und Ängsten und Todesfällen, die Ohnmacht, mit welcher der Arzt dem Geschehen gegenüberstand, hat nicht nur bei der Ärzteschaft, sondern auch bei der Bevölkerung einen schmerzlichen, unauslöschlichen Eindruck hinterlassen.»
Hinweis: Quellen, zitiert von der ETH-Website www.e-periodica.ch: Oltner Neujahrsblätter Band 8 (1950), Band 47 (1989), Band 76 (2018); Jahrbuch für solothurnische Geschichte Band 91 (2018).