Seit Jahren verfalle ich mit zuverlässiger Regelmässigkeit in eine Art ländlichen Romantik-Spleen. In meiner Fantasie verlasse ich dann mit Sack und Pack mein Oltner Zuhause, um in ein abgelegenes Häuschen auf dem Lande, direkt unterhalb des Waldrandes, zu ziehen. Ich sehe mich dann bereits draussen im Garten sitzen und die Ruhe geniessen, die es in Olten so nirgendwo gibt. «Wie herrlich», denke ich dann, «weit und breit kein Stimmengewirr und keine hupenden Autos.» Ab und zu würde vielleicht das Postauto vorbeifahren oder ein Traktor; und vielleicht würde man von irgendwoher auch noch Kuhglocken vernehmen können – aber ansonsten: die absolute Stille.
Wie besessen beginne ich schliesslich Inserate nach freien Häusern in der Oltner Agglomeration zu durchforsten, sortiere die Immobilien nach Anzahl Zimmern, nutzbarer Wohnfläche und berechne als bekennender Vorsichtsmassnahmen-Freak auch gleich die benötigte Fahrzeit zum nächstgelegenen Krankenhaus. Nachdem ich all diese Kriterien sorgfältig abgewogen habe und x-mal durchgegangen bin, fälle ich eine Entscheidung. Und von diesem Moment an ist meine Begeisterung nicht mehr zu bremsen. Topmotiviert setze ich mich in mein E-Auto, um das Objekt der Begierde aus nächste Nähe zu betrachten, bemerke aber zugleich, dass mich ein winziger Zweifel beschleicht. – Was, wenn es in der Nähe des neuen Wohnorts keine vernünftige E-Tankstelle gibt? Tief durchatmend und auf das Beste hoffend schiebe ich den Gedanken wieder weg und fahre zielstrebig los; denn wo ein Wille ist, da ist auch eine Tankstelle.
Wieder guten Mutes lasse ich das Oltner Ortsschild hinter mir und begebe mich auf ländliches Terrain. Ein wenig besorgt bemerke ich schon bald, dass die Welt ausserhalb von Olten auf nicht vernachlässigbare Weise anders ist, als ich es mir gewohnt bin, nämlich um einiges ruhiger oder besser gesagt – ziemlich ausgestorben. Augenblicklich bekomme ich Heimweh nach dem lärmigen Oltner Bahnhof morgens um halb sieben und nach der alten Brücke, auf der man immer mal wieder flink einem vorbeizischenden Velo ausweichen muss. Und auch der Gedanke, dass ich ebendiesen Bahnhof nicht mehr zu Fuss innerhalb von zehn Minuten erreichen könnte, lässt unbehagliche Gefühle in mir hochkriechen; aber so schnell lasse ich mich dann doch nicht von meinen neuen, wunderbaren Lebensplänen abbringen. Und schliesslich sei der Mensch ja ein Gewohnheitstier, das sich auch an eine neue Situation gewöhnen könne.
Auf der Zielgeraden, nur noch wenige hundert Meter von meinem möglicherweise zukünftigen Wohnort entfernt, beginnt mein Herz immer heftiger zu schlagen, ja regelrecht zu pochen und ich frage mich: Ist es Vorfreude oder etwa doch eine Panikattacke? Mir wird unsagbar heiss und ich fühle, wie sich fiese kleine Schweisstropfen einen Weg von meiner Stirn hinab zu meinem Kinn bahnen, worauf sich eine weitere Frage unaufhaltsam in mein Bewusstsein drängt: Kann man vor lauter Begeisterung dermassen zu schwitzen beginnen? Wenn ich dann vor dem Haus anhalte und mir hyperventilierend schlagartig klar wird, dass ich nie wieder nachts um eins mit dem Fahrrad von meiner Lieblingsbar werde nach Hause radeln können, dann bin ich mir sicher: Freude fühlt sich anders an. Ohne auch nur einen Fuss auf die Strasse gesetzt zu haben, starte ich den Motor erneut und fahre wie vom Teufel geritten zurück in meine geliebte kleine Stadt und betrete erleichtert darüber, dem Traum vom Landleben noch einmal entkommen zu sein, meine lärmige, in die Jahre gekommene Stadtwohnung. Mein Olten ist und bleibt mein Zuhause.