8. Auflage
«Hägendörfer Jahrringe»: Als die Kinder aus Belgien kamen

Die historische Publikation «Hägendörfer Jahrringe» ist erschienen; sie ist aber nicht bloss ein Panoptikum dorfgeschichtlicher Preziosen.

Urs Huber
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Hans Sigrist präsentiert das neuste Heft 8 (und all seine Vorgängerausgaben) der Hägendörfer Jahrringe.

Hans Sigrist präsentiert das neuste Heft 8 (und all seine Vorgängerausgaben) der Hägendörfer Jahrringe.

Bruno Kissling / Oltner Tagblatt

«Das eigentliche Herzstück der aktuellen Ausgabe bildet die Geschichte um die belgischen Kinder, die im Spätherbst 1917 nach Hägendorf kamen.» Hans ­Sigrist sagt das als Vater der «Hägendörfer Jahrringe», einer – grob gesagt – im Fünfjahresrhythmus erscheinenden Publikation, die sich schwergewichtig ortsgeschichtlicher Themen annimmt. Aktuell liegt die 8. Ausgabe vor, die ab dem 6. April auf der Gemeindekanzlei gratis bezogen werden kann. Kennzeichen: knapp 200 Seiten stark, 10 Autoren, 22 Beiträge, reich bebildert.

Seit 35 Jahren ist ­Sigrist Herausgeber der Publikation, verantwortlicher Redaktor, Autor, nicht selten auch Illustrator. Was sich im Lauf der Jahrzehnte verändert hat? Die Inhalte der Jahrringe würden, so ­Sigrist, vermehrt auch Schicksale einzelner Personen abbilden. «Einzelschicksale im zeitlichen Kontext sind faszinierend», sagt der ehemalige Oberstufenlehrer und sie würden verdeutlichen, dass Menschen stets ein Teil geschichtlicher Ereignisse sind.

Internationales am Fusse der Tüfelsschlucht

Eben: So wie die Kinder aus Belgien, die im zweitletzten Jahr des Ersten Weltkriegs nach ­Hägendorf kamen. Sie waren, wie alle der rund 2000 in der Schweiz aufgenommenen belgischen Kinder, Opfer der Kriegswirren in ihrer Heimat geworden. Sigrist hatte zwar schon Jahre zuvor von dieser Episode erfahren, als er in einem Protokoll der Schulkommission vom März 1918 zu lesen bekam, die belgischen Kinder hätten sich nun «die deutsche Sprache so angeeignet, dass ihnen Schulunterricht erteilt werden kann». Sigrist: «Sonst war darüber von offizieller Seite absolut nichts zu erfahren. Heute glaube ich auch zu wissen, warum. Die Kinder waren alle auf private beziehungsweise kirchliche Initiative in der Schweiz aufgenommen worden.»

Ein Kontakt spülte das Thema dann wieder an die Oberfläche, liess Sigrist die Geschichte der Kinder nachzeichnen. Betty Ryckaert aus dem belgischen Schilde, deren Vater als Fünfjähriger in der Flüchtlingskolonie im freiburgischen Vaulruz weilte, hatte ihr stets von den Erinnerungen an jene Zeit erzählt. So begann Betty Ryckaert zu ­recherchieren und landete schliesslich auf Umwegen in ­Hägendorf bei Hans Sigrist, der in der Folge intensive Recherchen startete.

«Drei Jahre lang habe ich mich mit Frau Ryckaert via E-Mail ausgetauscht»,

sagt er. Zeitzeugen gab’s im Dorf nach mehr als 100 Jahren zwar keine mehr. Dafür Senioren, die sich noch an die Gegenwart der Belgienkinder vom «Hörensagen» erinnerten. «Sie waren äusserst hilfreich», bestätigt Sigrist. Mit ihrer Hilfe etwa war der Herr der «Hägendörfer Jahrringe» sogar im Stand, auf einer Siegfried­karte von 1919 die jeweiligen Unterbringungsorte im Dorf auszumachen. «Dabei fällt auf, dass Geschwister meist nicht weit voneinander entfernt zu wohnen kamen», weiss der Lokalhistoriker und gibt sich beeindruckt, wie gross die Solidarität in der Bevölkerung damals gewesen sein muss. Denn: «Ich vermute, die meisten Gastfamilien in Hägendorf waren nicht sehr begütert.»

Man mag die Episode der Belgienkinder als eine Geschichte mit glücklichem Ende bezeichnen. Sie kehrten nach dem Ersten Weltkrieg Schritt für Schritt in ihr Heimatland und zu ihren Eltern zurück. Die Geschichte von Urs Kellerhals, der Anfang Oktober 1769 nicht mehr nach Hause kam, weil er sich in der Dünnern das Leben genommen hatte, ist es sicher nicht. Auch davon berichtet die aktuelle Ausgabe. Ebenso vom glücklosen Unternehmer Johann Flury, der um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert erfolglos versuchte, eine Sägerei zu etablieren.

«Die Themen kommen zu mir»

«Ich werde immer wieder gefragt, wie ich zu den Themen komme», lächelt Hans Sigrist, übrigens ein waschechter ­Hägendörfer. «Ich würde sagen: Die Themen kommen zu mir.» Manchmal nämlich macht ihn jemand auf eine Thematik aufmerksam, worauf der Lokalhistoriker aktiv wird, Ergänzendes dazu recherchiert. Das war etwa so mit den beiden Episoden Brennholzrüsten und den Reminiszenzen von Stör-Sager Ernst Hänggi beziehungsweise dessen Nachfahren. «Mir schoss durch den Kopf, dass Brennholzrüsten heute nur noch in wenigen Haushalten notwendig geblieben ist», sagt Sigrist. «Wir heizen heute per Knopfdruck.» So hat der Herausgeber in der aktuellen Ausgabe unter anderem ­illustrativ auch Holzbearbeitungsgerätschaften zum Thema gemacht, die vor 70, 80 Jahren noch zum Einsatz kamen bei der Brennholzrüsterei. Wer kennt heute noch den Begriff des Waldteufels beziehungsweise der Stockwinde, mit deren Hilfe Wurzelstücke aus dem Erdreich geholt wurden? Wer sich die 8. Ausgabe der «Hägendörfer Jahrringe» zu Gemüte führt, erfährt davon.

Alternative

Keine Vernissage, dafür Standaktion

Eine Vernissage kann aufgrund der Pandemie nicht stattfinden. Am Samstag, 3. April 2021, 10 bis 13 Uhr, ist eine Standaktion vor dem Coop in Hägendorf organisiert.

Nicht unerwähnt bleiben darf auch der Beitrag über das Steinkreuz am Kreuzplatz, den Zoll in Hägendorf, die Geschichte des Richenwil (einem Gebiet rund um den heutigen Eingang zum Belchentunnel), die Wassermatten an der alten Dünnern, Covid-19 im Dorf oder die Geschichte von Ludwina Kamber, die später zur Ludwina Giger wurde; aufgewachsen in unkonventioneller Umgebung, geriet sie schliesslich zur Frau von Welt: «gebildet und belesen», wie in den «Hägendörfer Jahrringen 2021» geschrieben steht.

Ob all der interessanten Beiträge muss die Frage erlaubt sein: Wird die 9. Ausgabe erscheinen? Sigrist ist 76-jährig und wirkt kein bisschen müde. «Das weiss ich nicht», sagt er und schmunzelt. Verheissungsvoll? Fast möchte man meinen.