Unser Kolumnist beschäftigt sich mit einer unbekannten Facette der Region, die ihre Wurzeln im welschen Teil der Schweiz hat.
Am 23. September ist in Schönenwerd Henri Sauterel gestorben, in seinem 94. Lebensjahr. Ich bin ihm sicher schon als kleiner Bub begegnet, denn die Familie Sauterel – sie hatten Kinder in meinem Alter – wohnte damals im gleichen Dorfteil. Bis in seine letzten Tage war Henri täglich zu Fuss unterwegs, eher kleingewachsen, immer aufrecht und mit zügigem Schritt.
An seinem Gang erkannte ich ihn schon von Weitem. Stand man vor ihm, schaute man in ein wetterfestes Gesicht mit wachen Augen, scheinbar unverändert seit Jahrzehnten, manchmal unter einem Béret. Und dann erst seine Sprache! Henri Sauterel war ein Welscher, ein Romand. Ich redete Schweizerdeutsch mit ihm, aber er hatte einen ganz eigenen Akzent aus dem ländlichen Freiburg, der einfach zu ihm gehörte. Den verlor er nie, auch nicht nach 75 Jahren im Niederamt.
Henri wuchs im Hochtal zwischen Châtel-St-Denis und Bulle auf, durch das heute die A 12 von Vevey nach Freiburg führt. In seiner Kindheit hörte er die alten Leute dort noch Patois reden. Als er im Januar 1947 mit 18 Jahren in der Hoffnung auf Arbeit nach Schönenwerd kam, hatte er als Bub schon drei Sommer auf einer Alp am Moléson geholfen und nach der Schule zwei Jahre als Torfstecher gearbeitet. Bei Bally wurde er eingestellt, weil man seinen Händen ansah, dass er anpacken gewohnt war. Mit Ausnahme einer kurzen Zeit nach der RS blieb er der Schuhfabrik bis zur Pensionierung treu.
Sauterel war keineswegs der einzige Welsche, der im Niederamt Arbeit fand und hängen blieb. Mir kommen zuerst die Familien Monnerat und Vez in den Sinn, weil ihre Söhne Christian und Patrice mit mir zur Schule gingen. In Schönenwerd bekannt waren aber auch die Romanens, Gaudard, Droux, Nançoz, Pammer, Cotting, Froidevaux, Frossard oder Varone. Etliche von ihnen kamen aus dem Kanton Freiburg, einzelne aus dem Wallis oder dem Jura. Das waren damals noch Auswanderungsregionen, so wie ein paar Jahrzehnte früher auch das Niederamt.
Von Henri Sauterel erfuhr ich, dass es in Schönenwerd einen Cercle Romand gab. Er selbst gehörte 1951 zu den Gründern. In diesem Kreis trafen sich die Welschen, machten mit ihren Familien Ausflüge, zum Beispiel auf den Eppenberg, und konnten nach Herzenslust Französisch parlieren. Ebenfalls dabei war die aus Belgien stammende Familie Rensonnet – die 85-jährige Marie-Louise Rensonnet kann heute als eine der Letzten der ersten Generation davon erzählen. Mehr als sechs Jahrzehnte lang blieb der Cercle Romand aktiv. Chapeau!
Die meisten Schönenwerder Romands waren katholisch, einige von ihnen gingen zur Kirche und nahmen am Leben der Pfarrei teil. Für Henri gehörte der Gang zum Gottesdienst am Sonntag bis zuletzt dazu. Auf der Kirchentreppe erzählte er mir einmal, dass er früher in Schönenwerd Messen auf Französisch besucht habe. Das wollte ich zuerst fast nicht glauben.
Aber in den alten Pfarrblättern fand ich die Bestätigung: Von 1951 bis 1959 hielten welsche Kapuziner im Auftrag der «Mission française de la vallée de l’Aar» alle vier Wochen eine «Messe et sermon français» in der katholischen Kirche von Schönenwerd. Sie gaben sogar ein Pfarrblatt auf Französisch heraus. Incroyable mais vrai.
Henri Sauterel war seine Herkunft wichtig, er bewahrte zeitlebens die Verbindung zur Heimat. Trotzdem habe ich den Eindruck, dass er in Schönenwerd zu Hause war. Denn er pflegte viele Beziehungen mit seiner Umgebung: An der Arbeit, in der Kirche, bei den Naturfreunden, im Dorf. Dank Henri und seinen Romands war das Französische bei uns eine lebendige Sprache. Und mit ihren Nachkommen bleibt das Niederamt bis heute ein Stück welsch.
Christian von Arx ist heute Chefredaktor des römisch-katholischen Pfarrblatts «Kirche heute». Er war langjähriger OT-Redaktor und lebt in Schönenwerd.