Aus Niederämter Sicht
Heute in weiss

Raphaela Glättli-Gysi
Raphaela Glättli-Gysi
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zvg

Heute Morgen, wenn viele hier in der Region ganz normal in die Schule und zur Arbeit gehen oder Sie vielleicht diese Kolumne lesen, machen sich in Aarau und Umgebung alle bereit für den schönsten Tag im Aarauer Stadtkalender.

Die selbstgewundenen Kränzchen, die Blumensträusschen und die Granatapfelblüten oder ein ebenbürtiger Ersatz dafür für die männlichen Maienzügler zum anstecken, werden aus dem Wasser oder dem Kühlschrank geholt, weiss trägt man heute.

Die Aarauer liessen sich ihren Maienzug auch in den zwei vergangenen Jahren nicht nehmen, schliesslich wurde er zuvor seit dem 19. Jahrhundert nur viermal nicht durchgeführt, nämlich 1817 wegen der Hungersnot, 1843 wegen des Einsturzes der hölzernen Aarebrücke, 1888 wegen einer Scharlachepidemie und 1944 wegen eines befürchteten Luftangriffs.

Nein, die Aarauer- und Aarauerinnen machten einfach «Maienzug light». Eine 400-jährige Tradition kann und wollte man nicht einfach ganz unterbinden. In den Quartieren tischte man ganze Strassen weiss ein, jeder brachte etwas mit, die Restaurants in der Altstadt luden auch zum kleinen Bankett, im Telliring fand anstatt der Morgenfeier eine Yogastunde in weiss statt, die Schulhäuser blieben unter sich oder veranstalteten Umzüge durchs Quartier.

Dort, im Juradorf nördlich von Aarau, wo ich aufwuchs, hörte man die Böllerschüsse morgens um 7 Uhr vom Alpenzeiger her sehr deutlich, aber man war längst vorher wach, das Gefühl war immer dasselbe: Schön, dass heute Maienzug ist.

Während der Primarschule im Dorf hatten wir Jugendfest, das Gefühl war ähnlich. Aber eben nicht ganz gleich. Mit dem Eintritt in die Bezirksschule, nahm man auch am Maienzug teil. Man lernte schnell, das gute alte Zwiebelprinzip funktionierte auch da. Wir mussten früher los als all die Stadtaarauer Kinder und vielleicht noch über die Fussgängerbrücke über die Aare eilen.

Wir Mädchen froren. Deshalb trugen wir dünne Strumpfhosen und Jäckchen. Ach was war ich stolz, als ich dann einmal als Ehrendame vor der Kadettenmusik laufen durfte, den Beinahe-Hörschaden nahm ich in Kauf. Später, als wir in Niedergösgen wohnten, hörte ich die Kanonenschüsse immer noch, getragen von Wind und Aare, das Gefühl blieb dasselbe. Ein heimeliges Gefühl.

Am Maienzugmorgen 2014, wir waren frisch umgezogen nach Lostorf, verschlief ich beinahe. Ich realisierte; hier hören wir die Böllerschüsse nicht mehr. Dennoch schaffte ich es doch mehrmals mit meinen Vorschulkindern, natürlich in weiss und mit Blumenschmuck, rechtzeitig an die Rathausgasse, wo die Grossfamilie mutterseits immer steht und auch heute stehen wird. Wir hatten immer etwas ausgefallenere, wildere Kränzchen und Sträusse, oft mit Wiesenblumen und Rosen aus dem Garten.

Dieses Jahr wird es aus sehr verständlichen Gründen keine Böllerschüsse geben, dafür wird der Umzug vom Glockengeläut der Stadtkirche begleitet. Ich für mich habe schon 2009, als ich für die «Aargauer Zeitung» über die wunderbar geschmückten Blumenbrunnen berichten durfte, einen leisen, verborgenen, neuen Zugang zum Maienzug gefunden. Diese vergänglichen «Kunstwerke» realisiert in zig freiwilligen Stunden von mehreren Teams von Brunnenfrauen und -männern, die früh am Maienzug-Vortag an der Blumenbörse die Blumen abholten.

Auch dieses Jahr kann man die blumigen Kreationen schon am frühen Maienzug-Vorabend auf einem Brunnenrundgang bewundern. Auch am Maienzugmorgen kann man vorbei am ganzen Trubel den 25 Brunnen in der Stadt nachgehen. Den Ort des für mich schönsten Brunnens möchte ich hier nicht verraten, unscheinbar und versteckt steht er da. Die Brunnen sind noch bis zum 3. Juli geschmückt. Wer es nicht bis an den Maienzug schafft, heute ist auch Jugendfest in Schönenwerd. In diesem Sinn, wünsche ich Ihnen einen Sommer voller Blumen!

Raphaela Glättli-Gysi ist Sprachkursleitende für Deutsch und wohnt mit ihrer Familie in Lostorf.