Wenn mich meine erwachsenen Schülerinnen im Deutschkurs nach zwei Jahren immer noch per Sie anreden, weiss ich weshalb. Weil das eine der ersten Verbformen ist, die sie hier können müssen und weil sie einfach zu merken ist. Schlicht wie die Grundform. Wir üben dann wieder die Du-Form. Wenn ich im Buechehof aufs Areal komme, werde ich ganz sicher von einer dort begleiteten Person mit dem Vornamen gerufen. Ich sage ihnen ja auch du. Das ist für mich völlig in Ordnung und stimmig.
Trifft man im Dorf Eltern von Schulkindern ausserhalb der Klassen der eigenen Kinder, sagt man Hallo oder Grüezi, am Elternabend sagt man sich unter den Eltern du, Schicksalsgemeinschaft sozusagen, man sagt Leuten du, denen man ohne unsere Kinder vermutlich Sie sagen würde. Daran habe ich mich gewöhnt und es macht wohl auch Sinn und die Kommunikation einfacher.
Dass mir die Coiffeuse schon beim ersten Besuch nur ihren Vornamen nennt, damit kann ich umgehen. Nur bin ich mir dann nie sicher, ob sie überhaupt erwartet, dass ich auch meinen Vornamen nenne oder sie mich weiter siezen will. Da sie meistens inzwischen deutlich jünger sind als ich, wäre es frei nach Knigge ja an mir, ihnen das Du anzubieten. Wenn ich aber nun nicht immer gleich mit dem Vornamen angesprochen werden will, wähle ich die Form Sie und Vorname.
Ich wurde noch nie so oft von wildfremden Leuten geduzt wie 2020. Meistens mit einem sehr aggressiven Unterton. Mehrmals so passiert in grösseren und kleineren Supermärkten und Lebensmittelläden im Dorf oder in der näheren Umgebung. Auf meine nette Bitte etwa: «Könnten Sie bitte Abstand halten?» bekam ich zur Antwort: «Was ist dein Problem?» Oder auch: «Dein Kind hustet, es gehört nach Hause!»
Diese Leute habe ich noch nie gesehen. Geht Wutbürgertum besser in der Du-Form? Und jedes Mal musste ich mir die Frage verkneifen, ob wir denn zusammen Säue gehütet hätten. Das Du muss aber nicht nur negativ konnotiert sein, es hat sich eingeschlichen unter dem Deckmantel Kundennähe. Coop hat schon 2005 die Kampagne ‹Für mich und dich› lanciert. Ein alter Hase im Umgang mit der Du-Form. Ab 2019 hiess es dann ‹Für mich und dich . Und Köbi›. Ich finde die Kampagne gut. Auch mit dem Zusatz in der dritten Singularform. Knapp und klar. Die Konkurrentin mit dem orangen M bleibt beim Sie, selbst beim Cumulusprogramm. Konsequent und trotzdem kundennah, zuletzt mit kurzen Filmen aus dem Alltag der Kunden.
Dass es auch ohne Du geht, zeigen ebenfalls die Tourismusorganisationen in der Schweiz. Mit wort- und bildstarken Kampagnen wird gerade intensiv um Touristen geworben. Und sind trotzdem kundenorientiert. In der Sie-Form. Neulich suchte ich auf der Website von Ikea ein Kleinmöbel: ‹damit deine eigenen vier Wände auch wirklich deine Persönlichkeit zum Ausdruck bringen›. Naja. Wenn ich eine e-Rechnung erhalte, heisst es schon im Betreff: ‹Vergiss nicht deine Klarna-Rechnung zu bezahlen›. Wollte ich auf einer online-Verkaufsplattform einen Liegestuhl verkaufen, wurde ich von einem Interessenten gleich mit dem Vornamen angeschrieben. Jedesmal sträubt sich in mir etwas gegen dieses unverfrorene Du.
Mitten im Pandemiejahr, als ‹social Distance› zum geflügelten Wort geworden war, dann die Meldung: Die Credit Suisse duzt ihre Kunden am Schalter, zuerst nur als Pilotprojekt in der Zürcher Filiale an der Europaallee, später soll das Du aber in anderen Städten übernommen werden. Das hätte ich mir damals vor zwanzig Jahren im Bankpraktikum nie träumen lassen. Laut der Pressemeldung vom letzten September sei die Du-Kultur Teil des neuen Geschäftskonzepts. Das Du ist nicht die neue Höflichkeitsform.
Daher; geniessen Sie Ihren Sommer!
Raphaela Glättli-Gysi ist Sprachkursleitende für Deutsch und wohnt mit ihrer Familie in Lostorf.