Immer häufiger entscheidet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg gegen Schweizer Rechtsprechung. Kritiker bemängeln eine fehlende richterliche Zurückhaltung: Die Richter würden die Menschenrechte zu dynamisch interpretieren.
Vor drei Tagen hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg (EGMR) der Schweiz Recht gegeben. Sie hatte einen mehrfach straffällig gewordenen und von einer Schweizerin geschiedenen Kosovaren in sein Heimatland ausgewiesen. In der Vergangenheit hat der EGMR der Schweizer Rechtsprechung jedoch sehr oft widersprochen. Neun von 13 Entscheiden hat «Strassburg» im vergangenen Jahr umgestossen. Wie das Bundesgericht im Geschäftsbericht 2013 festhält, handelt es sich um einen «neuen Höchstwert». Im Durchschnitt waren es in den vergangenen Jahren fünf Beanstandungen bei elf Urteilen.
Verurteilungen haben Folgen
Auf diese «stark steigende Tendenz» hat gestern Paul Widmer, Dozent für internationale Beziehungen an der Universität St. Gallen, in einem Meinungsbeitrag in der «NZZ» aufmerksam gemacht und auf die «Konsequenzen» hingewiesen. Die Verurteilungen könnten mitunter Gesetzesänderungen bedingen. «Denn der verurteilte Staat muss Vorkehrungen treffen, damit sich Fälle der beanstandeten Art nicht mehr ereignen», schreibt Widmer.
Besonders häufig würden Verurteilungen wegen Verletzung des Rechts auf Privat- und Familienleben erfolgen. Ein Beispiel, das 2013 für Aufsehen gesorgt hatte, ist der Entscheid des EGMR, dass die Schweiz einen Kokainschmuggler und Sozialhilfeempfänger aus Nigeria nicht hätte ausschaffen dürfen. Der Vater von drei Kindern hatte Beschwerde eingereicht und Recht bekommen. Die Richter hielten fest, dass es von «übergeordnetem Interesse» sei, dass die Mädchen bei ihren Eltern aufwachsen.
Als «Hauptproblem» des EGMR bezeichnet Widmer die fehlende richterliche Zurückhaltung. Einerseits würden einige Richter die Menschenrechte betont «dynamisch» interpretieren, und somit deren Geltungsbereich zusehends auf neue Gebiete ausdehnen. Andererseits würden sie die «Hoheit von nationalen Gerichten» zu wenig respektieren, «indem sie den Ermessensspielraum für die Umsetzung von Menschenrechten zugunsten einer einheitlichen europäischen Regelung einengen».
Auch Rechtsprofessor und Bundesrichter Hansjörg Seiler kritisiert laut der «Weltwoche» diese «dynamische» Interpretation. In einer Studie schreibt Seiler gar von einem «wahren Erdbeben», das die legitimierte Rechtsordnung erschüttert habe. Er stört sich am «autoritären Charakter» der Richtersprüche.
Nur noch «Spitzenrichter»
Widmer schlägt nun «Reformmassnahmen» vor. Urteile des EGMR sollen nur noch rechtsgültig sein, wenn mindestens sechs von sieben Richtern einer Kammer den Entscheid so gefällt haben. Für Richterposten in Strassburg sollten nur noch «Spitzenrichter oder Personen mit einschlägiger beruflicher Erfahrung» vorgeschlagen werden.