SP-Bundesrätin
Urbane Bünzlis und revolutionäre Landeier: Die Wahl von Elisabeth Baume-Schneider rief entlarvende Reaktionen hervor

In Deutschschweizer Polit- und Medienbubbles hätte man lieber eine «Städterin» im Bundesrat gesehen. Die Reaktionen sind voller Klischees, die den Realitäten nicht standhalten. Ein Gastkommentar.

Thomas Kessler
Thomas Kessler
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Die Wahlen in Bundesbern waren für die Freunde der Confoederatio Helvetica wie Ostern und Pfingsten zusammen für fromme Christen. In der Basler Kunsthalle gab es spontan ein Fest: «Vive le Jura! Vive la Suisse!» Keine Spur von «Eine ganze Region trauert». Umso weniger, als der Jura zur Nordwestschweiz gehört und einst – wie das Wappen zeigt – von Basel aus regiert wurde. Stattdessen viel Freude, weil der junge Rebellenkanton definitiv in der Eidgenossenschaft angekommen ist.

Die Bundesversammlung hat loyal eine der offiziellen Kandidatinnen gewählt – eine «Animal politique». Bilingue aufgewachsen mitten im Jurakonflikt, hat sie bei der Revolutionären Marxistischen Liga mitgemacht; die Studien an der Universität Neuenburg mit dem Lizenziat abgeschlossen. Sie verkehrt in den Lokalen der Anarchisten in St.Imier. Ihr zweites Kind kam auf die Welt, als sie Präsidentin des Kantonsparlaments war.

Nach 13 Jahren Kantonsministerin für Bildung, Sport und Kultur hat sie eine Schule geleitet und wurde zur Ständerätin gewählt. Dort ist sie für ihre strikte und lösungsorientierte Sitzungsführung als Kommissionspräsidentin breit respektiert.

Unverständnis in den Deutschschweizer Bubbles

Wie wir inzwischen wissen, sind damit in den Deutschschweizer Politblasen etliche überfordert. Sich urban fühlende Journalisten äussern sich schockiert, in den sozialen Medien gibt es sexistische Statements über das fröhliche Bauernmädchen mit Schafen. Sozialdemokratinnen nennen die Wahl der linken Jurassierin «bürgerliche Machtpolitik». Die eigenen Stimmen und jene von grünen Pharmaskeptikern werden ausgeblendet, das Lamento über die Dominanz der Hinterwäldler reaktiviert. Während das Bundesamt für Statistik die dicht vernetzte Schweiz längst in funktionale Räume einteilt, soll das Kriterium für Fortschrittlichkeit die Einwohnerzahl der aktuellen Wohngemeinde sein.

Elisabeth Baume-Schneider mit Wohnort Les Breuleux wäre demnach tatsächlich die Provinziellste.

Nun ist es allerdings so, dass der Jura seit dem 18. Jahrhundert Uhrenmanufakturen und die linksten Gemeinden der Schweiz hat. Deren Abstimmungsresultate in sozialen und europäischen Fragen erscheinen «urban». Die Uhrenindustrie hat die Region früh mit der ganzen Welt verbunden und zur Heimat der Anarchisten gemacht. Bakunin wird noch heute gelesen. Auch zeitgenössische Impulse wie der Frauenstreik kommen aus dem Jura. Die Nähe zu den Städten Belfort und Montbéliard sensibilisiert auf migrationspolitische Fragen; der Jura hat Uiguren aus Guantanamo aufgenommen.

Als Argument für die Vertretung der Städte wird ihre Wirtschafts- und Innovationskraft angeführt. In Städten oder Kantonen mit globalen Playern wie Zug ist der Steuerertrag tatsächlich hoch. Zwei Drittel der Belegschaften sind jeweils Arbeitsmigranten aus über 100 Ländern, gute Steuerzahlerinnen ohne Stimmrecht. Gegen sie gibt es allerdings Unmut: «Xpats go home» war einmal an einer Demo in Basel zu lesen. Die Innenstädte werden zu verkehrsberuhigten Idyllen mit subventionierten Lastenvelos und staatlichen Gemüsebeauftragten.

Die Vororte überraschen mit progressiven Entscheiden

Die gesellschaftlichen Reibungen finden in den Vororten statt, die Innovationen in den KMU mit ihren Spitzenprodukten für die internationale Realwirtschaft. Im Jura stehen Windparks, in urbanen Räumen werden sie bekämpft. Die «Randgebiete» im Jurabogen, Appenzell Ausserrhoden und Graubünden geben den Niedergelassenen schon lange Stimm- und Wahlrecht; Basel-Stadt hat dies 2010 mit 81 Prozent nein abgelehnt. Stimmrecht 16 gibt es in Glarus, nicht in Genf oder Zürich. Dort fühlen sich hingegen viele kompetent im alpinen Raub- und Nutztiermanagement. Das Jagdgesetz muss deswegen, wegen der Kraft des Faktischen, bereits wieder rerevidiert werden.

Ignoranz ist eben der Zwilling von Arroganz. Es gibt sehr gute Gründe, sich im erfreulich vielgestaltigen Schwyzerländli als empathische Solidargemeinschaft zu verstehen – in der Lebenswirklichkeit des eng verknüpften Landes. Dann sieht man wieder die Gartenzwerge im städtischen Vorgarten und die global erfolgreiche Hightechbude in Herzogenbuchsee.

Zum Autor

Thomas Kessler ist Mitglied des Publizistischen Ausschusses von CH Media, beruflich spezialisiert auf Sicherheitsfragen, Migration und Integration.