Schneekugel-Effekt
So profitiert der Schweizer Tourismus von der Terrorgefahr in Europa

Die Schweiz profitiert von ihrem Image als Ort der Sicherheit in Europa. Die Touristen lassen sich diesmal vom Terror nicht bremsen. Weshalb die Folgen anders sind als nach den Anschlägen in Paris 2015.

Andreas Maurer und Niklaus Vontobel
Drucken
Schweizer Tourismus profitiert von der Terrorangst
5 Bilder
Jim und Julie aus Florida in der Jungfraubahn: Kurz zuvor waren sie in Paris dem Terror nahe gekommen.
Top of Europe, das Jungfraujoch auf 3466 Metern, neuerdings immer mit Selfiestangen und Drohnen.
Inder reagieren weniger sensibel auf Terroranschläge als Asiaten. Ein Inder sagt: «In Indien gibt es mehr Terror.»
Der Gang durch die Eishöhle ist ein besonderes Erlebnis. Das Getränk stammt aus dem Restaurant «Bollywood».

Schweizer Tourismus profitiert von der Terrorangst

Mario Heller

In der Jungfrau-Bahn ist der Terror weit weg – und doch nah. Zum Beispiel in den Köpfen von Jim (58), Julie (52), Nicole (22) und Nathalie (20), einer Familie aus einem Küstenstädtchen in Florida. Sie waren diese Woche in Paris im Hotel, bereit, die Notre-Dame zu besuchen. Da blinkte auf Jims Handy eine Terrorwarnung auf. Draussen heulten Sirenen.

In einem anderen Zugsteil sitzt Anna Han (23) aus Südkorea. Sie stand kurz zuvor auf der Tower Bridge, als auf der benachbarten London Bridge die Sirenen losgingen. Sie kehrte zurück in ihr Guesthouse.

Der Terror begleitet diese Touristen, die das Jungfraujoch besuchen. Aber er kann sie nicht aufhalten. Die Südkoreanerin Han ging am Abend der Attacke einfach früh schlafen. Es war der einzige Kompromiss, den sie auf ihrer Reise wegen des Terrors machte.

Die Familie des Amerikaners Jim ging wenig später dann doch noch zur Notre-Dame. Die Spuren der Bluttat waren bereits weggewischt. Tochter Nathalie sagt: «Wenn wir unsere Reise dem Terror anpassen, könnten wir nirgends mehr hingehen – ausser vielleicht in die Schweiz.»
Ausser vielleicht in die Schweiz. Das Land profitiert vom Ruf als friedliche Insel in Europa.

Markus Berger von «Schweiz Tourismus» sagt: «Die chinesischen Reiseveranstalter haben uns signalisiert: Die Schweiz ist diesen Sommer wieder gut gebucht.» Auch die Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH Zürich erwartet, dass die Chinesen in alter Stärke zurückkommen. Tourismusspezialist Florian Hälg sagt: «Wir gehen davon aus, dass die chinesischen Gästezahlen dieses Jahr wieder besser sein werden.» Den Engpass bei der Vergabe von Touristen-Visa habe das schweizerische Aussendepartement gelöst.

Erfahrungsgemäss würden sich die Gästezahlen nach Anschlägen schon eine Saison später normalisieren. Die neusten monatlichen Übernachtungszahlen würden auf eine Rückkehr zu den hohen Wachstumsraten hindeuten.

Die Terrorkrise von 2016

Im vergangenen Sommer reagierten die Touristen sensibler auf den Terror als 2017. Die Anschläge in Paris holten damals die Schweiz ein. Viele Chinesen hatten das Land zusammen mit Rom und Paris pauschal gebucht und wichen damals in Scharen aus. Schweiz-Tourismus-Sprecher Berger sagt: «Die Reisen wurden teils abgesagt, teils in Zentraleuropa gemacht; in Prag, Budapest, Wien.» In der Schweiz brachen die chinesischen Gästezahlen ein, ein wichtiger Wachstumstreiber fiel aus.

Auf dem Jungfraujoch hallte Paris nach. Die Buchungen von asiatischen Gästen gingen um über dreissig Prozent zurück. Patrizia Bickel, Sprecherin der Jungfraubahnen, sagt: «Mit Paris wurde der Hotspot jeder Europareise getroffen. Wir verfolgen seit vielen Jahren mit unserer Marke ‹Jungfrau – Top of Europe› die Strategie, dass zu einer Europareise neben Paris auch das Jungfraujoch gehört.» Vor einem Jahr funktionierte diese Werbung nicht.

Nach dem Anschlag in Brüssel im März 2016 gingen die Buchungen erneut zurückgegangen. Es folgten die Anschläge von Nizza, München und Nürnberg. Bickel sagt: «Somit blieb Westeuropa in regelmässigen Abständen in Verbindung mit dem Terror im Gespräch. Dies führte schnell zu einer Verlagerung.»

Der Start ins Jahr 2017 stimmt die Betreiber der Jungfraubahnen nun jedoch zuversichtlich. Bis Mitte Mai wurden 250 000 Besucher gezählt, fast zwanzig Prozent mehr als im Vorjahr. Dazu hätte ein starker Anstieg von Gruppenreservationen beigetragen. Asiaten machen rund 70 Prozent der Gäste aus.

Das Land in der Glaskugel

Im einem speziellen Raum auf dem Jungfraujoch, angeschrieben mit «Alpine Sensation», hauchen Asiatinnen und Inderinnen an die Scheiben einer Glaskugel und drücken Kussmünder darauf. In der Kugel eine gepuderte Schweizer Winterwelt. Die Schweiz ist für diese Touristen eine heile Welt innerhalb Europa mit der Jungfrau als Höhepunkt. Der Tourismus reagiert auf den Terrorismus wie die Welt in der Schneekugel. Nach einem kurzen Sturm rieselt das Geschäft wieder wie zuvor.

Vor der Kugel steht Ken Yong (53) aus Singapur mit einer Fahne in der Hand und genehmigt seinen 20 Touristen einen Stopp. Er ist Reiseleiter von «EU Holidays» und musste einige Landsleute vor der Buchung beruhigen: «Es gibt in Asien auch Terror, zum Beispiel in Malaysia oder Indonesien. Nur hat man sich dort daran gewöhnt.» Für Europa sind die Schreckensmeldungen neu, doch auch daran würden sich die Asiaten gewöhnen. Yong ändert das Programm nur marginal: «In Paris und London versuchen wir, Menschenmengen zu meiden.»

Bei Schweiz Tourismus setzt man auf das kurze Gedächtnis der Touristen. Berger sagt: «Sie vergessen schnell, dafür gibt es zig Beispiele.» Die Anschläge auf das World Trade Center in den USA 2001. Zwei Jahre später bereisten die Amerikaner wieder in alter Stärke die Welt. Die Anschläge 2003 in Luxor, Ägypten. Ein Jahr später schon waren die Touristen zurück. Solange ein Anschlag als Einzelfall wahrgenommen werde, kämen die Gäste meist schon in der Saison darauf wieder zurück.

Die Tourismus-Organisation der UNO vermeldete für 2016 sogar einen weltweiten Urlauber-Rekord. Sage und schreibe 1,23 Milliarden Übernachtungen wurden 2016 gebucht. Und für 2017 wurde erneut ein Wachstum von drei bis vier Prozent erwartet. Seit der Finanzkrise 2008 kamen 300 Millionen Reisende dazu. Ein Wachstum, wie es seit den 1960er-Jahren keines mehr gab. Der Internationale Flugverband Iata verbuchte einen Allzeitrekord bei den Passagierzahlen.

Sprunghaft sind sie aber, die Touristenströme. Die Türkei wird dieses Jahr gemieden. Die Übernachtungen sind eingebrochen. Dafür wissen in Griechenland die Hotels nicht mehr, wohin mit den Touristen. Schweizer Reiseveranstalter vermelden dort Zuwächse von 40 Prozent. Genauso nach den Anschlägen in Paris und Nizza letztes Jahr. «Paris und Nizza hatten letztes Jahr sinkende Zahlen. Aber Bordeaux und Lyon hatten mehr ausländische Gäste als im Vorjahr», sagt KOF-Experte Hälg.

Die grossen Touristenströme können auch länger an einem Land vorbeilaufen. Richard Kämpf, Leiter Tourismuspolitik beim Staatssekretariat für Wirtschaft, sagt: «Ein Land kann dauerhaft als unsicher gelten, wenn sich die Zahl der Anschläge häuft.» So gelte die Südküste der Türkei mittlerweile als instabile Region. «Die Touristen werden dorthin nicht so bald wieder im ursprünglichen Ausmass zurückkehren», sagt er. Daher sollte sich auch das übrige touristische Europa nicht zu sicher fühlen. «Sollten sich die Anschläge weiterhin häufen, könnte auch Europa irgendwann in Asien als insgesamt riskante Region wahrgenommen werden.»

Schwarze Länder-Listen

Einige Touristen haben schon jetzt schwarze Listen im Kopf. Raj Lawande (77), amerikanischer Bürger und gebürtiger Inder, steht auf dem Jungfraujoch vor dem Restaurant «Bollywood» und sagt, in welche Länder er aus Sicherheitsgründen nicht mehr geht: England, Frankreich, Deutschland. Auf seiner Liste der sicheren Länder führt er die Schweiz, Griechenland, Norwegen, Finnland. Sein Motto: «Man sollte sein Leben wegen des Terrors nicht ändern, aber Vorkehrungen treffen.»

So macht es auch die Familie von Jim, die für die Jungfrau-Fahrt von Interlaken 900 Dollar bezahlt hat und über den Terror spricht, während draussen die Murmeltiere spielen. Jim sagt, in London gehe er nur noch in Theater, die Eingangskontrollen mit Metalldetektoren haben. Ansonsten überlässt er die Angst aber den Daheimgebliebenen. Die 75-jährige Grossmutter der Familie wollte sie vor der Reise abhalten.

Mutter Julie hat Verständnis: «Ich würde mir auch Sorgen machen, wenn meine Kinder alleine durch Europa reisen würden.» Aber sie seien ja jetzt alle zusammen, ein beruhigender Gedanke. Wenn etwas passiert, teile die Familie ihr Schicksal.