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Schweiz
Das Rahmenabkommen kann kaum gerettet werden. Und der Bundesrat will auch den Plan B nicht, den Aussenminister Cassis entwickelt hat – mit 6:1 Stimmen. Parmelin reist nun alleine zu EU-Präsidentin Ursula von der Leyen.
Die Schweiz steht vor einer schicksalshaften europapolitischen Woche. Am Montag will der Bundesrat in einer ausserordentlichen Sitzung entscheiden, mit welchem Plan Bundespräsident Guy Parmelin zu politischen Gespräche mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach Brüssel fliegt.
Klar ist inzwischen, dass das Treffen am 23. April stattfindet. Und dass Bundespräsident Guy Parmelin alleine nach Brüssel reist. Das entschied der Gesamtbundesrat am Freitagmorgen. Bundesratssprecher André Simonazzi vermeldete es auf Twitter.
Treffen zwischen EU-Kommissionspräsidentin @vonderleyen und #BundespräsidentCH @ParmelinG am 23. April 2021. #SwissEUrelations pic.twitter.com/cXBY5LH6WR
— André Simonazzi (@BR_Sprecher) April 16, 2021
«Ich bin froh, dass unser Bundespräsident am Freitag ein Acht-Augen-Gespräch hat mit EU-Präsidentin Ursula von der Leyen», sagte Aussenminister Cassis am Fünfertreffen der deutschsprachigen Länder in Lugano. Acht-Augen-Gespräch, weil neben den beiden Präsidenten auch die Chefunterhändler dabei sind.
Dass nun Parmelin alleine nach Brüssel reist, hat protokollarische Gründe. Das Treffen von EU-Präsidentin zu Bundespräsident sei der Wunsch der EU gewesen, betonte Cassis in Lugano. «Ich bin froh, dass es klappt und dass sich die Politik nun austauscht über die technischen Gespräche.»
Die Nervosität, die sich in Bern breitgemacht hat, zeigt: Der Bundesrat scheint schlecht vorbereitet für den Gang nach Brüssel. Alle Zeichen deuten zurzeit darauf hin, dass das Rahmenabkommen scheitert. Einen Plan B will er aber auch nicht. Die Situation ist offenbar derart zerfahren, dass Bundeskanzler Walter Thurnherr gemäss «Nebelspalter» die Sitzung vom Montag vorbereiten muss. Thurnherr hatte schon 2019 eingegriffen, als er sich in Brüssel geheim mit Martin Selmayr traf, dem mächtigen Generalsekretär der EU-Kommission.
Recherchen zeigen, dass zwar beim Rahmenabkommen eine Einigung in zwei von drei offenen Punkten wahrscheinlich scheint. Das Problem der staatlichen Beihilfen ist wohl gelöst. Hier will die EU schwarz auf weiss bestätigen, dass die Kontrollen vorerst auf das Luftverkehrsabkommen beschränkt bleiben.
Beim Lohnschutz glaubt man in Bern, dass eine Einigung in den politischen Gesprächen möglich ist. Auch aus Brüssel kommen Signale, dass die EU bereit ist, auf die Schweiz zuzugehen, sofern die Prinzipien der Verhältnismässigkeit und der Nichtdiskriminierung gewahrt bleiben, wie der «Tages-Anzeiger» schreibt.
Als eigentlicher Knackpunkt des Abkommens erweist sich immer mehr die Unionsbürgerrichtlinie. Die Übernahme der Richtlinie 2004/38/EG durch die Schweiz ist vor allem für die Bürgerlichen ein No-Go. Sie befürchten einen eigentlichen Dammbruch, was den Zugang von EU-Bürgern zu Aufenthaltsrecht und Sozialhilfe betrifft.
Die Unionsbürgerrichtlinie steht zwar nicht explizit im Rahmenabkommen. Die EU fordert aber von der Schweiz schon lange, dass sie diese übernimmt. Weil sich die beiden Seiten nicht einigen konnten, liess man sie im Abkommen einfach unerwähnt. Die Schweiz befürchtet aber, dass die EU die Richtlinie über das Schiedsgericht einklagen könnte. Die EU ist nicht bereit, der Schweiz eine Ausnahme zu garantieren. Hier rückt sie kein Jota von ihrer Position ab, wie Quellen bestätigen.
Weil eine Einigung zum Rahmenabkommen in letzter Minute wenig wahrscheinlich ist, hat Aussenminister Ignazio Cassis einen Plan B entwickelt. Diesen wollte er der EU im Falle eines Scheiterns anbieten. Er sollte den bilateralen Weg mit der EU mittelfristig sichern, das Verhältnis mit der EU möglichst gut gestalten und sie von Strafmassnahmen abhalten.
Cassis’ Plan B beinhaltete ein ganzes Bündel an Massnahmen. So sollte die blockierte Kohäsionsmilliarde von 1,3 Milliarden an die Oststaaten ausbezahlt werden. Vor allem sah er aber auch eine neue, substanzielle Zahlung direkt an die EU vor. Zahlen wurden keine genannt. Und Cassis plante, der EU eine Aufdatierung des Freihandelsabkommens von 1972 anzubieten - im Sinne einer Willenserklärung. Ein solches Abkommen sollte den selbständigen Weg der Schweiz mit der EU garantieren - als zweite Säule neben den Bilateralen.
Eine Automatisierung des Kohäsionsbeitrages und eine Modernisierung des Freihandelsabkommens entspricht grundsätzlich einem Wunsch der EU, wie zu hören ist.
Der Plan B stiess aber im Bundesrat auf heftigen Widerstand – vor allem wegen der geplanten Aufdatierung des Freihandelsabkommens. Bundespräsident und Wirtschaftsminister Guy Parmelin brachte am Mittwoch eine geheime Infonotiz des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) dazu in die Bundesratssitzung ein. Die Notiz erwähnt zwar auch Vorteile, erteilt einer Aufdatierung aber eine Absage.
Eine Erneuerung des Freihandelsabkommens von 1972 würde zu einem umfassenden Wegfall des Grenzschutzes führen, sagt Rechtsanwalt Jürg Niklaus, der an der ETH Zürich Agrar- und Handelspolitik unterrichtet. Das bedeutet: Die Landwirtschaft, die in den Bilateralen ausgenommen wird, wäre plötzlich Bestandteil eines so erneuerten Freihandelsabkommens. Die EU wolle Assoziierungsabkommen mit Drittstaaten nur noch unter Einschluss der Landwirtschaft, sagt Niklaus.
Das mag mit ein Grund dafür sein, weshalb Bauer Parmelin den Cassis-Plan so kritisch beurteilte. Dieser Plan B wurde in Bundesbern aber generell als «schlecht» taxiert, wie Recherchen zeigen. Das hängt vor allem mit der Erneuerung des Freihandelsabkommens zusammen. Die Regierung diskutierte den Plan B am Mittwoch zum zweiten Mal. Und diesmal fiel er mit 6:1 Stimmen durch.
Für SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi ist klar, dass der Bundesrat der EU mitteilen muss, die Verhandlungen seien gescheitert. «Wir lehnen den sofortigen Beginn von Verhandlungen über ein erweitertes Freihandelsabkommen ab», sagt Aeschi. «Es wäre der grösste Fehler, sich nach dem Abenteuer um das Rahmenabkommen gleich in das nächste Verhandlungsabenteuer zu stürzen. Es braucht nun einen Marschhalt.»
Kommt es am Montag nicht doch noch zu einem Umdenken, ist klar: Die Landesregierung unternimmt zwar einen letzten Versuch, das Rahmenabkommen zu retten. Er ist aber nur halbherzig. Alles deutet darauf hin, dass sie sich auf das Scheitern vorbereitet. Und vor allem: Sie will Bundespräsident Parmelin offenbar explizit ohne Plan B nach Brüssel fliegen lassen.
Das wiederum ist, nach sieben Jahren Diskussionen mit der EU, doch einigermassen erstaunlich. Und man fragt sich, ob das wohl gut kommt.