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Schweiz
Nach dem Nein zum EWR versuchen ausgerechnet die Grünen, den Rahmenvertrag retten. Die grüne Wahlplattform 2019-2023 fordere das, sagt Präsident Glättli. Was er nicht sagt: Eine Diskussion um den EU-Beitritt käme den Grünen ungelegen.
«Wir sollten der EU weniger Steuerdumping garantieren – und im Gegenzug von der EU unseren Schutz vor Lohndumping zugesichert erhalten»: Das sagte Präsident Balthasar Glättli in der «Schweiz am Wochenende».
So wollen die Grünen das Rahmenabkommen in letzter Sekunde retten. Ausgerechnet die Grünen. Das überrascht. Noch vor 30 Jahren waren sie es gewesen, die den EWR mit ihrem Nein zum Absturz gebracht hatten.
Das sorgt bei Hotelier Peter Bodenmann noch heute für einen roten Kopf. «Die himmeltraurigste Rolle spielten die Grünen», schrieb er in der letzten «Weltwoche». «Sie verhalfen Christoph Blocher zum knappen Volksmehr und wurden dafür von diesem im Nachgang auch noch verspottet.»
Als das EWR-Nein 2012 das 20-Jahr-Jubiläum feierte, trat Bodenmann für den damaligen «Sonntag» (heute «Schweiz am Wochenende) nur unter einer Bedingung zum Streitgespräch gegen SVP-Doyen Christoph Blocher und Ex-FDP-Präsident Franz Steinegger an: Ein Stuhl musste demonstrativ unbesetzt bleiben - für die Grünen. Sie hatten für ihn das Rendez-vous der Geschichte verpasst.
Bodenmann hatte im Vorfeld der EWR-Abstimmung als Präsident der SP Schweiz (1990 bis 1997) gemeinsam mit dem damaligen Nationalrat Paul Rechsteiner das Konzept der flankierenden Massnahmen entwickelt – um Lohndumping mit EU-kompatiblen flankierenden Massnahmen zu lösen.
Doch das reichte den Grünen 1992 bei weitem nicht für ein Ja. Sie standen mit SVP, Freiheitspartei, Lega, Schweizer Demokraten, EDU und dem Schweizerischen Bauernverband im Nein-Lager. Dieses gewann hauchdünn: 50,3 Prozent der Bevölkerung sagten Nein, genauso wie 14 Kantone und 4 Halbkantone.
1989 hatten die Grünen im Papier «Ja zu Europa heisst Nein zum EG-Binnenmarkt» erstmals Stellung bezogen zum Verhältnis mit der Europäischen Gemeinschaft (EG), der späteren EU. Das hat der Berner Politiker Luzius Theiler in einem Artikel minutiös nachgezeichnet. Er war ursprünglich Mitglied des Landesrings der Unabhängigen (LdU), gründete aber 1976 in Bern die Grün alternative Partei.
Bis 1992 existierten drei grüne Parteien: die Grüne Partei, das Grüne Bündnis und die Progressiven Organisationen (Poch). Sie vereinigten sich später mehrheitlich unter dem Dach der Grünen Schweiz.
Grüne Partei und Poch sagten nein zum EWR, das Grüne Bündnis war gespalten. Ein Röstigraben zog sich dabei durch die Grüne Partei und das Grüne Bündnis: Die Westschweizer wollten den EWR mehrheitlich, die Deutschschweizer nicht.
Schon an der Delegiertenversammlung vom 4. Mai 1991 hatte die Grüne Partei ihre Position zur EG auf der Programmplattform gutgeheissen. «Die heute die EG dominierende zentralistische und rein wirtschaftlich ausgerichtete Politik ist in ihrem Wesen lebensfeindlich und antiökologisch», hiess es darin. Sie führe zu einer «Zerstörung unserer Lebensgrundlagen».
Und am 14. September 1991 ergriff die Grüne Partei an der Delegiertenversammlung in Luzern das Referendum gegen die Neue Eisenbahn-Alpentransversale Neat – und forderte gleichzeitig den Abbruch der Verhandlungen zum EWR. «Wir gehen lieber nach Bern als nach Brüssel», stand auf einem Transparent vor dem Rednerpult.
Das hauchdünne Nein vom 6. Dezember war dann ein «Schock», wie Theiler schrieb. Und Ruedi Baumann, Grünen-Präsident von 1997 bis 2001, gestand 2012 ein, die Grünen hätten sich die Augen gerieben. Schon 10 Tage nach der Abstimmung forderten sie «sofortige EG-Beitrittsverhandlungen». Das Nein zum EWR sei eigentlich ein Ja zum EU-Beitritt gewesen, hielten sie fest. Die Tatsache, dass sie den EWR Seite an Seite mit der rechten Schweiz abgelehnt hatten, wog schwer. Die NZZ schrieb von «integrationspolitischen Purzelbäumen».
«Das EWR-Nein war für die Grünen eine Zäsur und hat eine Neupositionierung ausgelöst», sagt Nationalrätin Regula Rytz heute, Grünen-Präsidentin von 2012 bis 2020. «Wer zu den Grünen gehört, denkt und handelt grenzüberschreitend und vernetzt. Wir sind eine europäische Partei und stehen heute an einem ganz anderen Ort als noch 1992.»
Unter dem Einfluss von Präsident Baumann fuhren die Grünen Ende der 1990er Jahre einen dezidiert EU-freundlichen Kurs. 1998 bestätigten die Grünen an einer Delegiertenversammlung ihr Ja zur EU im zweiten Positionspapier zu Europa. «Die Schweizer Grünen stehen der europäischen Integration positiv gegenüber», heisst es darin. «Die Mehrheit der Schweizer wünscht sich einen baldigen Beitritt unseres Landes zur Europäischen Union.»
Schon im neuen Jahrtausend flammten bei den Grünen aber wieder EU-kritische Töne auf, sobald es um konkrete Verflechtungsfragen ging wie beim Schengen-Dublin-Abkommen (2006), das als «Festung Europas» kritisiert wurde. Bei der «Cassis de Dijon»-Vorlage (2009) unterstützte die Mehrheit der grünen Kantonalsektionen das Referendum.
2006 korrigierten die Grünen im dritten Positionspapier zu Europa auch das absolute «Ja zur EU» von 1998. Unter dem Titel «Ja zu einem EU-Beitritt – aber nicht um jeden Preis» betonte es «direktdemokratische Errungenschaften» der Schweiz, welche die Grünen nicht mehr einfach «preisgeben» wollten.
Grundsätzlich ist das Papier von 2006 auch 15 Jahre später noch gültig. Es wurde nie überarbeitet. Doch als aktuellste Europa-Positionierung der Grünen gilt die Wahlplattform 2019-2023. Man wolle in dieser Legislatur erreichen, «dass der bilaterale Weg durch einen fairen Rahmenvertrag und eine engere Zusammenarbeit gestärkt wird», schreiben sie darin.
Der EU-Beitritt wird in der Plattform mit keinem Wort erwähnt. Die Grünen schreiben im Gegenteil von einem «grossem Handlungsdruck», der in Europa bestehe. Gemeint ist damit die rechtspopulistischen Welle in vielen Ländern Europas, die Werte und Spielregeln der modernen, freiheitlichen Demokratie infrage stellt, etwa in Ungarn oder Polen. «Wir Grüne streben gemeinsam mit unseren europäischen Schwesterparteien ein demokratisch, sozial und ökologisch erneuertes Europa mit Respekt der Menschenrechte an», heisst es in der Plattform.
Wie stark das Nein vom 6. Dezember 1992 am Selbstverständnis der Grünen nagte, zeigt ein Tweet von Regula Rytz. «Die Vox-Analyse zu EWR-Abstimmung 1992 zeigt: Die Grünen haben dem EWR mehrheitlich zugestimmt», schrieb sie am 24. November 2017 auf Twitter. «Und zwar im gleichen Masse wie die CVP (je 53 Prozent).
Die Vox-Analyse zu EWR-Abstimmung 1992 zeigt: Grüne haben dem EWR mehrheitlich zugestimmt. Und zwar im gleichen Masse wie die CVP (je 53%). Fazit: Entscheidende Rolle spielte die CVP (mit einem Wähleranteil von 18% damals, gegenüber den Grünen mit 7%). @GrueneCH @jonasprojer pic.twitter.com/MphOPKSQLN
— Regula Rytz (@RegulaRytz) November 24, 2017
Das Fazit von Rytz: Nicht die Grünen seien 1992 das Zünglein an der Waage gewesen für das EWR-Nein. Sondern die CVP-Wähler. Die CVP sei 1992 mit einen Wähleranteil von 18 Prozent noch wesentlich stärker gewesen als die Grünen mit ihren 7 Prozent.
Dass 2021 ausgerechnet jene Grünen das Rahmenabkommen retten wollen, die den EWR noch 1992 entscheidend zum Absturz brachten, sieht der aktuelle Präsident Balthasar Glättli entspannt. «Dieses Nein ist 30 Jahre her», sagt er. «In der politischen Zeitrechnung sind das Jahrhunderte.»
Das grüne Wahlprogramm 2019-2023 sage klar, «dass wir den bilateralen Weg mit einem fairen Rahmenabkommen sichern wollen – ohne den Lohnschutz materiell zu schwächen», betont Glättli. «Jetzt ist der Moment, dafür Lösungen aufzuzeigen.»
Sollte der Rahmenvertrag durchfallen, analysiert der Präsident, gehe er davon aus,« dass relativ schnell eine Debatte um einen EU-Beitritt startet». Schon das Rahmenabkommen habe es schwer, sagt er - und folgert: «Ein EU-Beitritt dürfte nicht einfacher zu bewerkstelligen sein.»
Die Grünen haben zurzeit keine Lust auf eine EU-Beitrittsdiskussion. Dass der Name Glättli auf den Wahlplattformen fehlt, mit denen die Neue Europäische Bewegung Schweiz (Nebs) jeweils Kandidierende für das nationale Parlament empfiehlt, ist ein Indiz dafür.
Ein weiteres Indiz dafür sind die grenzüberschreitenden Projekte, welche Regula Rytz als ehemalige Präsidentin mit den Schwesterparteien initiiert hat. Sie pflegte die Zusammenarbeit mit den europäischen Grünen intensiv. So kam zum Beispiel vor den Europawahlen 2019 Robert Habeck nach Zürich, Co-Vorsitzender der deutschen Grünen.
«Diesen konstruktiven Austausch über gemeinsame Inhalte wollen wir mit den Grünen der Nachbarländer Deutschland, Österreich und Frankreich weiterführen», sagt Rytz. Als Schweizer Delegierte bei den «European Greens» sie sie aber auch auf gesamteuropäischer Ebene engagiert.
Pragmatische und grenzüberschreitende Nachbarschaftsprojekte mit den Schwesterparteien sind das Gebot der Stunde für die Grünen. Und nicht ideologische EU-Beitrittsdiskussionen.