Globuskrawalle
Erinnerungen an 1968: Die Krawalle markierten den Wendepunkt

Der Protest vor 50 Jahren war der Auftakt für die 68er-Bewegung in der Schweiz. Wie Zeitzeugen den Aufbruch erlebten – und was sie heute darüber denken.

Matthias Scharrer
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Nachdem der Zürcher Stadtrat sich gegen ein autonomes Jugendzentrum im Globus-Provisorium beim Hauptbahnhof gestellt hatte, eskalierten in der Nacht vom 29. Juni 1968 die Proteste der Jugendlichen.
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Globuskrawalle
Globuskrawalle 1968
Globuskrawalle 1968
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Globuskrawalle 1968
Globuskrawalle 1968
Globuskrawalle 1968
Globuskrawalle 1968
Globuskrawalle 1968
Globuskrawalle 1968
Coop im Globus-Provisorium. Hier ereigneten sich ab dem 29.6.1968 die sogenannten Globuskrawalle.

Nachdem der Zürcher Stadtrat sich gegen ein autonomes Jugendzentrum im Globus-Provisorium beim Hauptbahnhof gestellt hatte, eskalierten in der Nacht vom 29. Juni 1968 die Proteste der Jugendlichen.

STR

Mittwochmorgen vor dem Globus-Provisorium in Zürich: Studierende eilen vorbei am Coop, der vor Jahren in das Gebäude über der Limmat nahe beim Hauptbahnhof eingezogen ist. Viele heften den Blick auf ihr Handy. Frage an einen 28-jährigen Studenten: Was geschah hier vor 50 Jahren? «Keine Ahnung», sagt er und lächelt. Noch ein Anlauf, diesmal mit dem Stichwort Globuskrawall. Wieder die Antwort: «Keine Ahnung.» Und 1968? Jetzt dämmert es ihm. «Aber ich bin politisch nicht so interessiert», sagt er und läuft weiter, Richtung Uniquartier. Zweiter Versuch, diesmal mit einer 22-jährigen Studentin. Sie hat eine Ahnung: «Das war ein von Jugendlichen besetztes Haus, so in den Sechziger-, Siebzigerjahren», sagt sie. Vor langer Zeit habe sie mal in der Schule davon gehört.

«Wir wollten keine Verbände, sondern selbststrukturierte Vollversammlungen, Musik und freien Tanz.» Elisabeth Joris: Die Historikerin studierte 1968 in Zürich

«Wir wollten keine Verbände, sondern selbststrukturierte Vollversammlungen, Musik und freien Tanz.» Elisabeth Joris: Die Historikerin studierte 1968 in Zürich

Zürich 2018 scheint weit weg von Zürich 1968. Damals, am 29. Juni, kam es beim Globus-Provisorium zu gewaltsamen Ausschreitungen zwischen der Polizei und rund 2000 jungen Menschen, die für ein Autonomes Jugendzentrum (AJZ) demonstrierten. Die Forderung stand schon länger im Raum. Im Vorjahr hatte der Stadtrat der Jugend das leerstehende Globus-Provisorium für eine Vollversammlung zur Verfügung gestellt. Die Demo vom 29. Juni 1968 sollte daran erinnern.

«Ohnmächtige bekommen Tritte»

Schon im Vorfeld der Demo hatte der Stadtrat signalisiert, dass die Polizei eine Besetzung verhindern würde. Doch die jungen Demonstranten hatten einen Plan B: Sie wollten weiterziehen zum Bellevue, um am Sechseläutenplatz mit Brettern ein symbolisches Altersheim zu errichten. Dazu kam es nicht. Die Polizei spritzte die Demonstranten mit Wasser ab, diese reagierten mit Steinwürfen. Die Lage eskalierte: Es kam zu polizeilichen Übergriffen und über 40 Verletzten auf beiden Seiten. 169 Personen wurden festgenommen.

Der Schriftsteller Max Frisch, dessen Tochter unter den Demonstranten war, notierte in seinem Tagebuch: «Verhaftete werden in den Globus-Keller verbracht, wo sie, auch wenn sie keinerlei Gegenwehr leisten, nochmals mit Knüppeln zusammengeschlagen werden, Ohnmächtige bekommen Fusstritte in die Hoden.»

«Die Toleranz, die die Jugendlichen forderten, brachten sie selber nicht unbedingt auf. Aber das kommt wohl immer wieder vor.» Toni Vescoli: Der Musiker spielte 1968 im Vorprogramm der Rolling Stones

«Die Toleranz, die die Jugendlichen forderten, brachten sie selber nicht unbedingt auf. Aber das kommt wohl immer wieder vor.» Toni Vescoli: Der Musiker spielte 1968 im Vorprogramm der Rolling Stones

Emanuel Per Freudiger

Zwei weitere Nächte mit Demonstrationen folgten. Daraufhin verfassten diverse Intellektuelle als Vermittlungsversuch das «Zürcher Manifest» und sammelten von Beteiligten, Ärzten und Juristen Aussagen für einen unabhängigen Bericht über die Ausschreitungen. Frisch zählte zu den Unterzeichnern des Manifests. Darin heisst es: «Die Zürcher Ereignisse (...) sind eine Folge unzulänglicher Gesellschaftsstrukturen. Sie als Krawalle abzutun und die Beteiligten nur als randalierende Taugenichtse und Gaffer hinzustellen, ist oberflächlich.

Wir sind überzeugt: Eine Ursache der Krise ist die Unbeweglichkeit unserer Institutionen.» Gleichzeitig forderten die Unterzeichnenden die «Bereitstellung eines zentral gelegenen, autonom verwalteten Diskussionsforums für Jung und Alt», zudem den Verzicht auf Sanktionen gegen Studenten und Schüler, auf Ausweisungen von Ausländern – und die Wiederherstellung des vorübergehend aufgehobenen Demonstrationsrechts.

Fanal für die 68er-Bewegung

Anruf bei Elisabeth Joris, 50 Jahre später. Die Historikerin war 1968 Studentin an der Universität Zürich. Vor zehn Jahren gab sie den Sammelband «Zürich 68» mit heraus. Im Vorwort steht: «Die Strassenschlachten in der Nacht vom 29. auf den 30. Juni 1968 zwischen Demonstrierenden und der Polizei markieren nicht den Anfang, aber fraglos einen Wendepunkt für die Zürcher Protestbewegungen.» Sie gelten heute als Fanal für die 68er-Bewegung in der Schweiz.

Am Telefon sagt Joris, die jenes Wochenende ausserhalb von Zürich verbracht hatte: «Ich kam am Sonntagabend am Hauptbahnhof Zürich an. Alle Spuren waren noch da. Am Montag gab es Riesendiskussionen, auch unter den Studenten, die politisch weniger interessiert waren.»

Sie erinnert sich an eine Vollversammlung im Globus-Provisorium. Wann genau diese stattfand, kann sie nicht mehr sagen. Aber die Bilder haben sich in ihr Gedächtnis eingeprägt: Bilder von wortgewaltigen Rednern wie Thomas Held, dem späteren Direktor des Thinktanks Avenir Suisse. «Zum einen waren Studierende da, zum anderen auch Lehrlinge, Handwerker. Es war ein gemischtes Milieu», sagt Joris. Die Wortführer seien vorwiegend Männer gewesen.

Es sei nicht nur um ein AJZ gegangen: «Offene Plätze zum Reden und Gestalten – das war wichtig. Wir wollten keine Verbände, sondern selbststrukturierte Vollversammlungen, Musik und freien Tanz.» Auch das Wohnen wurde zum Politikum: Zunächst hatte Joris bei einer «Schlummermutter» gewohnt, wie damals viele Studierende. Männer- respektive Frauenbesuche waren verpönt, im Kanton Zürich galt noch ein Konkubinatsverbot. «Dann entstanden die ersten Wohngemeinschaften. Ich zog in eine Gross-WG.»

Musik spielte schon im Vorfeld des Globuskrawalls eine wichtige Rolle: Bereits bei den Zürcher Konzerten der Rolling Stones 1967 und von Jimi Hendrix am 31. Mai 1968 im Hallenstadion war es zu Auseinandersetzungen zwischen dem jungen Publikum und der Polizei gekommen.

Anruf bei Toni Vescoli, der damals als Sänger der Band Les Sauterelles wochenlang die Schweizer Hitparade anführte und im Vorprogramm der Rolling Stones gespielt hatte. Er erinnert sich an ein Konzert der Sauterelles im Zürcher Volkshaus an einer Vollversammlung im Juli 1968: «Wir hatten nicht viel Zeit, weil wir auf Tournee waren. Wir machten das aus Solidarität.»

Pfarrer Sieber wurde ausgebuht

Die Stadt hatte der aufsässigen Jugend das Volkshaus zur Verfügung gestellt, gegen eine Kaution von 10'000 Franken, wie Max Frisch in seinem Tagebuch festhielt. «Wir garantieren mit drei Schecks», schrieb Frisch – und fasste die Vollversammlung knapp zusammen: «Teach-in, sie hocken auf dem Boden, Diskussion bis Mitternacht, dazwischen Gitarren, dann putzen sie den Saal, gehen nach Hause. Die städtischen Detektive auch. Kein Stuhlbein ist zu bezahlen.»

Trotz grundsätzlicher Solidarität regte Vescoli etwas an der Vollversammlung auf: «Dass man Pfarrer Sieber ausbuhte.» Der kürzlich verstorbene Ernst Sieber war schon damals bekannt dafür, dass er sich für Randständige einsetzte. «Man liess ihn nicht reden, weil er ein Pfarrer und damit eine Autoritätsperson, also Establishment war», sagt Vescoli. Und fügt an: «Die Toleranz, die die Jugendlichen forderten, brachten sie selber nicht unbedingt auf. Aber das kommt wohl immer wieder vor.»