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Kilian Karrer konvertierte von der katholischen zur reformierten Kirche und wurde vom Priester zum Pfarrer. Die Jobaussichten sind gut, könnte man meinen. Denn eigentlich herrscht Pfarrermangel.
Kilian Karrer war 50 Jahre alt, als er sein altes Leben abbrach und ein neues startete. Er begann es ohne Bankkonto, ohne Einkommen, ohne Pensionskasse. Denn in seinem alten Leben musste er sich nicht um diese irdischen Belange kümmern. Er war Mönch.
Als 18-Jähriger war er ins Benediktinerkloster Mariastein im Kanton Solothurn eingetreten. Er legte das Gelübde ab, ewig im Kloster zu leben, ohne Besitz und ohne Sex. Sein Leben widmete er der Liebe zu Gott, doch das Glück fand er dabei nicht, wie er im Rückblick feststellt.
Das Glück kam auf anderem Weg zu ihm: in der Person der Sakristanin der benachbarten Kirche. Die Sakristanin ist die Hausmeisterin der katholischen Kirche und bereitet Gottesdienste vor und nach. Die beiden verliebten sich. Erst jetzt erfuhr er, was es bedeutet, glücklich zu sein, wie er sagt.
Nach drei Jahrzehnten verliess er das Kloster und gab alles auf, was ihm bisher wichtig war. Das Paar wollte heiraten, doch in der katholischen Kirche ist das nicht erlaubt. Karrer war Priester und hatte sich dem Zölibat verpflichtet. Die beiden entschieden sich zu einem ungewöhnlichen Schritt: Sie konvertierten zur reformierten Kirche. Dann heirateten sie.
Für seinen neuen Lebensabschnitt wählte Kilian Karrer einen Beruf, in dem er auf Erfahrungen zurückgreifen kann: Er liess sich zum reformierten Pfarrer weiterbilden. Die Voraussetzungen sind eigentlich gut. Nach der katholischen Kirche hat mittlerweile auch die reformierte ein Personalproblem. Das Jahr 2020 ist dabei der Wendepunkt: Erstmals werden mehr Pfarrer pensioniert als ordiniert. Gemäss Prognosen gehen die Kurven danach auseinander. Immer mehr Pfarrer treten aus, immer weniger schliessen die Ausbildung ab.
Die Universitäten Basel und Zürich bieten deshalb Quereinsteigerprogramme an. Es sind verkürzte Studiengänge in Theologie, die sich an Berufsleute richten, die sich in der Mitte des Lebens neu orientieren wollen. Zu den Studenten gehören eine Strafverfolgerin, ein Marketingfachmann und eine Eiskunstläuferin. In Kauf genommen wird dabei, dass diese Quereinsteiger weniger über die theologischen Grundlagen Bescheid wissen als normale Pfarrer.
Im Fall von Kilian Karrer ist das aber kein Problem: Da er schon einen Abschluss in Theologie hat, musste er nur noch 30 Creditpoints in reformierter Theologie, ein Praktikum und das Lernvikariat absolvieren. In zwei Jahren wird der Priester zum Pfarrer. Diese Woche hat der feierliche Moment stattgefunden: In einem Gottesdienst wird er zum Pfarrer geweiht.
Karrer, 53 Jahre alt, sitzt in einer Pizzeria und erzählt von seinem Lebenswandel. Er spricht leise und zurückhaltend. Es scheint ihm unangenehm zu sein, mit seiner Geschichte in der medialen Öffentlichkeit zu stehen.
Einige Tage später steht Karrer vor dem Mikrofon in der ökumenischen Kirche von Flüh SO und dankt seinen Unterstützern. Hier spricht er mit einer Kraft in der Stimme, die das Publikum in der gut besuchten Kirche an seinen Lippen hängen lässt. Es scheint der Ort zu sein, wo er gerne mit seinen Worten in der Öffentlichkeit steht. Im Gottesdienst, in dem Karrer zum Pfarrer geweiht wird, steht sein Berufskollege Ernst Huber auf der Kanzel und richtet eine Frage an die Kirchenbesucher:
Was ist das Gegenteil von Liebe?
Hass könnte man meinen, antwortet er selber. Aber er als Pfarrer erlebe als Gegenteil von Liebe etwas anderes, sagt er und macht eine Kunstpause. Gleichgültigkeit.
Die Worte passen zur Feier, denn obwohl es einen Grund zum Feiern gibt, gibt es auch einen Grund, der nicht zum Feiern ist. Karrer wird nämlich zum Pfarrer ohne Arbeit geweiht. Seit einem Jahr ist er auf der Suche nach einer Stelle. Doch er hat keine gefunden. Inzwischen hat er sich deshalb beim Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum gemeldet.
Auf den ersten Blick befindet sich der Stellenmarkt in einem paradiesischen Zustand. Die Arbeitslosenquote liegt bei Pfarrern bei unter einem Prozent, während der Schweizer Durchschnitt über drei Prozent beträgt. Doch nur gerade 0,4 Prozent der Pfarrstellen sind offen. Das ist ein sehr tiefer Wert. Über alle Berufe gesehen, befindet sich die Quote der offenen Stellen schweizweit bei zwei Prozent.
Zu dieser Situation hat der Mitgliederschwund geführt. Seit Kurzem gibt es in der Schweiz mehr Konfessionslose als Reformierte. Die Kirchenbänke leeren sich, die Kassen auch. Kirchgemeinden fusionieren und bauen Stellen ab. Wo es weniger Schäfchen gibt, braucht es weniger Hirten. Die Statistik, die einen Pfarrermangel aufzeigt, bildet den Schweizer Durchschnitt ab. Die regionalen Unterschiede sind aber gross, weil die Entchristlichung geografisch sehr unterschiedlich verläuft.
Die Stadt, in der Gott am meisten Einfluss verloren hat, ist Basel. Nur 36 Prozent der Einwohner sind Christen. In keiner anderen Stadt zahlen weniger Einwohner Kirchensteuern. Die Mehrheit (51 Prozent) der Baslerinnen und Basler gehört keiner Religion an. Am anderen Ende des Städterankings steht Sion: Drei Viertel der Wohnbevölkerung sind Christen, vor allem Katholiken. Nur ein kleiner Teil (18 Prozent) gehört hier keiner Religion an.
Ein Pfarrer auf Jobsuche müsste sich schweizweit bewerben, um rasch eine Stelle zu finden. Das ist das Schöne am Beruf: Man kann überall im Land tätig werden und am neuen Ort erst noch oft in ein schönes Pfarrhaus einziehen. Wer aber nicht umziehen will, hat je nach Ort einen schweren Stand. Wie Kilian Karrer, der in seinem neuen Leben näher bei seiner Familie sein will.
Den Neustart hat er sich anders vorgestellt: «Ich bin enttäuscht und mache mir Sorgen.» Trotzdem bereut er die Konversion nicht. In der reformierten Kirche haben er und Natascha Karrer eine neue Heimat gefunden. «Hier konzentriert man sich auf das Wesentliche», sagt er, «auf das Wort.» Besonders gefällt ihm die familiäre Atmosphäre in seiner neuen Kirche: «Wir spüren eine grosse Herzlichkeit.»
Karrer macht sich schon Gedanken über seinen nächsten Neustart. Falls er weiterhin kein Pfarramt finden sollte, kann er sich vorstellen, sich zum Lehrer weiterbilden zu lassen.