Messerattacke
Das Profil der Täterin von Lugano: Zwischen Irrsinn und Islamismus

Die Attacke in Lugano wurde von einer Frau mit zwei Eigenschaften begangen: psychisch gestört, dschihadistisch geprägt – was war stärker?

Andreas Maurer
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Der Tatort: Wahnsinnstat mitten im Weihnachtsshopping.

Der Tatort: Wahnsinnstat mitten im Weihnachtsshopping.

Pablo Gianinazzi/Keystone (Lugano, 24. November 2020

Sie ist 28 Jahre alt, Schweizerin, psychisch krank, und sie hat eine brisante Vorgeschichte. 2017 lernte sie über soziale Medien einen IS-Kämpfer kennen, in den sie sich verliebte. Deshalb wollte sie zu ihm nach Syrien reisen.

Das ist ein typisches Muster in der Dschihadisten-Szene. Männer reisen in den Krieg. Frauen reisen den Kriegern nach. Doch an der Grenze zwischen der Türkei und Syrien wurde die Frau von den türkischen Behörden gestoppt. Mit dem Flugzeug reiste sie zurück in die Schweiz, wo sie von der Polizei empfangen wurde.

Die Bundespolizei Fedpol erstellte einen Ermittlungsbericht, den sie im März 2018 der Bundesanwaltschaft zustellte. Diese eröffnete jedoch kein Strafverfahren, weil sie keinen hinreichenden Tatverdacht erkannte. Die Bundesanwaltschaft teilt mit: «Die Ermittlungen konnten keine strafbaren Handlungen aufzeigen.»

Reisen in den Dschihad, in den sogenannten Heiligen Krieg, sind in der Schweiz aber verboten. Weshalb genügt diese Ausgangslage nicht für ein Strafverfahren? Dazu schweigt die Bundesanwaltschaft.

Die Bundesanwaltschaft vermutet Terror und führt ein Verfahren

Die Frau wurde damals in eine Psychiatrie eingewiesen. Seither fiel sie der Bundespolizei nicht mehr auf. Dann kam der Dienstagnachmittag. In der Manor-Filiale von Lugano packte die Frau ein grosses Messer und ging auf zwei Frauen los. Eine verletzte sie schwer an der Kehle. Dabei soll sie gerufen haben, sie gehöre zur Terrororganisation IS. Zum Glück griff ein Paar ein und hielt sie fest, bis die Polizei kam.

Die Bundesanwaltschaft hat die Frau am Mittwoch zum ersten Mal einvernommen. Sie geht von einem «mutmasslich terroristisch motivierten Angriff» aus und hat Untersuchungshaft beantragt. Nun führt sie ein Strafverfahren, und zwar wegen vorsätzlicher Tötung, schwerer Körperverletzung und Verstoss gegen das IS-Verbot.

Das Profil der Frau weist typische Elemente von Dschihadisten-Biografien auf. Die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften hat Angaben zu 130 Dschihadisten untersucht, die vom Nachrichtendienst des Bundes beobachtet wurden. Mit dem Alter von 28 Jahren liegt die Frau exakt im Durchschnitt. Auch psychische Probleme sind in diesem Milieu verbreitet: von ADHS bis Schizophrenie.

Nicht ins Muster passt einzig ihr Geschlecht. In der Schweiz ist nur jede zehnte Person des Dschihadmonitorings eine Frau. In anderen europäischen Ländern ist der Anteil radikalisierter Frauen grösser und beträgt bis zu dreissig Prozent.

Umstritten ist, welcher Einfluss die psychische Krankheit hat. Die Autoren der Zürcher Studie gehen davon aus, dass psychische Probleme selten die Ursache von Radikalisierung sind, sondern eher eine Folge der sozialen Situation von Extremisten darstellen.

Die Mutter verteidigt ihre Tochter und hat eine Erklärung

Eine ganz andere Erklärung hat die Familie der 28-jährigen Tessinerin. Sie lebt in Vezia bei Lugano und wird nun von Reportern belagert. Der «Corriere del Ticino» zitiert die Mutter*:

Meine Tochter war immer krank: Sie nimmt Medikamente, und wir sind überzeugt, dass das, was am Dienstag passiert ist, darauf zurückzuführen ist, dass sie die Therapie abgebrochen hat.

Nach der Episode 2017 in Syrien habe ihre Tochter alle Beziehungen zu diesen Leuten abgebrochen. Deshalb können sich die Eltern nicht vorstellen, dass ihre Tochter eine Terroristin sein solle. Sie kritisieren, dass die Strafverfolgungsbehörden diese Annahme voreilig getroffen hätten.

Dabei besteht allerdings ein Missverständnis. Islamistische Terrorattacken werden heutzutage nicht mehr von Kommandostrukturen gesteuert, weil diese weitgehend zerschlagen worden sind. Der Terror existiert weiter, weil er sich verselbstständigt hat. Die IS-Propaganda spricht psychisch gestörte Einzeltäter an, die in ihrem Irrsinn zur Tat schreiten. Eine gefährliche Mischung, die kaum berechenbar ist. Zudem kann die Ursache für eine solche Wahnsinnstat dann oft nicht mehr eindeutig bestimmt werden.

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* Inzwischen distanziert sich die Familie von den Zitaten. Sie drückt den Opfern ihr Mitgefühl und ihre Solidarität aus. Mehr will sie nicht mehr sagen oder gesagt haben.