Geschwistermobbing
Streit unter Geschwistern kann zu seelischen Schäden führen, wenn er zum Mobbing wird

In der Kindheit lernen Brüder und Schwestern mit Konkurrenz umzugehen und die eigenen Interessen zu verteidigen. Wird aber nicht fair gezankt, schadet das der Seele – manches Mal ein Leben lang.

Susanne Holz
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Sie sind immer da, die Geschwister, und man hat sie sich nicht ausgesucht. Kämpfen gehört deshalb zum Programm. (Bild: Getty)

Sie sind immer da, die Geschwister, und man hat sie sich nicht ausgesucht. Kämpfen gehört deshalb zum Programm. (Bild: Getty)

Susanne Holz
susanne.holz@luzernerzeitung.ch

Liebe und Hass, Rivalität und Verbundenheit sind Gefühle, die manchmal stündlich wechseln können. Dass das so ist und wie man damit umgehen kann, lernen wir schon im Kinderzimmer – falls wir Geschwister haben. Streit unter Geschwistern ist normal und stärkt uns wohl auch fürs spätere Leben. Weil aber die Rangeleien unter Brüdern und Schwestern als so natürlich gelten, werden sie recht oft verharmlost. Eltern mischen sich häufig nicht ein, wenn sich der Nachwuchs zankt. Sie sagen sich: «Das haben wir doch auch durchgemacht – und sind gut rausgekommen.»

Seit einigen Jahren weiss die Forschung jedoch: Artet der Geschwisterstreit in Mobbing aus, kann das ernste Folgen für die Gesundheit haben. Die Quälereien hinterlassen ihre Spuren. 2014 machte eine Studie der Universität Oxford von sich sprechen: Die Forscher hatten rund 7000 Kinder im Alter von zwölf Jahren zu ihrem Verhältnis zu den Geschwistern befragt. Beispielsweise danach, ob Bruder oder Schwester hässliche Dinge zu ihnen sagten, sie ignorierten, Lügen über sie erzählten oder sie gar körperlich angingen. Anschliessend wurde sechs Jahre lang die Entwicklung der Psyche der befragten Kinder beobachtet.

Bei drei oder mehr Kindern wird häufiger gemobbt

Das Ergebnis der britischen Studie war: Regelmässig durch Geschwister gemobbt zu werden, erhöht das Risiko, im späteren Leben an einer Depression zu erkranken. Die rund 800 Mädchen und Buben, die sechs Jahre zuvor angegeben hatten, von Geschwistern mehrmals in der Woche gemobbt zu werden, litten mit 18 Jahren doppelt so häufig an Depressionen, Angststörungen oder Selbstverletzungen wie die nicht gemobbten Studienteilnehmer. Mädchen waren durch das Geschwistermobbing etwas stärker betroffen als Buben. Und das vor allem in Familien mit drei oder mehr Kindern. Verantwortlich waren gemäss Studie häufig ältere Brüder.

Je mehr Kinder Eltern haben, desto weniger Aufmerksamkeit erhält das einzelne Kind. Manchmal bilden sich dann Koalitionen unter den Kindern oder die Eltern bevorzugen etwa das älteste oder jüngste Kind. Sigmund Freud beispielsweise, ältestes von acht Kindern und Liebling der Mutter, schätzte sich glücklich ob der «Zuversicht des Erfolgs», welche ihm die Mutter mit auf den Weg gegeben habe. Wie es seinen jüngeren Geschwistern diesbezüglich erging, kann man nur mutmassen.

Auf der Hand liegt: Werden Geschwister ungleich behandelt, vergrössert dies noch das ohnehin vorhandene Konkurrenzverhalten. Es muss ja nicht gleich zum Brudermord kommen wie im Alten Testament bei Kain und Abel. Dass aber gerade zwei Brüder sich ein Leben lang rangeln können, wissen viele Menschen aus eigener Erfahrung. Und auch von den berühmten Brüdern Thomas und Heinrich Mann ist bekannt, dass sie einander nicht sehr grün waren. Im Buch «Geschwisterbeziehung und seelische Erkrankung» zitiert Autorin Dorothee Adam-Lauterbach Thomas Mann mit seiner Aussage, dass das ­«Bruderproblem das eigentlich schwerste in seinem Leben sei».

Geschwister unterscheiden sich oft sehr voneinander

Bereits 2006 schreibt der «Spiegel» im Artikel «Rivalen fürs Leben», dass sich Geschwister, obwohl mit demselben Erbgut ausgestattet und in derselben Umgebung aufgewachsen, in ihren Persönlichkeitsmerkmalen oft stärker voneinander unterschieden als willkürlich auf der Strasse aufgelesene Personen mit ähnlichem Alter und ähnlicher sozialer Herkunft dies voneinander tun. Und: Eltern behandelten ihre Kinder weder gleich, noch hätten sie alle gleichermassen lieb. «Oft haben Vater und Mutter unterschiedliche Favoriten. In den USA, so das Ergebnis zweier Grossstudien, bevorzugen die meisten Mütter das jüngere Kind.» Auch interessant und irgendwie kaum verwunderlich: In ihren Vorstellungen hätten Geschwister nie dasselbe Elternhaus.

Weiter zitiert der «Spiegel» den deutschen Wissenschaftler und Buchautor Hartmut Kasten. Eine Faustregel sei: «Kleiner Altersabstand und gleiches Geschlecht produzieren zwischen gesunden Geschwistern grösstmögliche Nähe, Liebe und Zuneigung – aber auch Aggressivität, Ablehnung und Rivalität bis zum Hass.» Dass die jeweilige Geschwisterkonstellation massgeblich für das miteinander Auskommen und ebenso für die persönliche Lebensgeschichte ist, weiss auch die Luzerner Psychoanalytikerin Marie-Claire Zingg. Zingg betont, in ihrer Arbeit stets die Geschwisterkonstellation eines Menschen zu berücksichtigen: «Das Thema war zu lange aussen vor – immer stand die Beziehung der Kinder zu den Eltern im Vordergrund.»

Die Psychoanalytikerin stellt klar: «Generell haben Kinder gerne Geschwister, die Liebe zu den Brüdern und Schwestern ist gross.» Marie-Claire Zingg weist zudem darauf hin: «Im Vergleich zur Beziehung zu den Eltern ist die Beziehung zu den Geschwistern freier und nicht so reglementiert. Das gibt Spielraum – im Positiven wie im Negativen. Geschwister können Rivalen wie Verbündete sein.» Und Rivalen werden sie vermutlich eher, ist der Altersabstand gering – da geht Zingg mit der allgemeinen Forschung einig: «Bekommt ein Kind mit anderthalb Jahren ein Geschwisterchen, befindet es sich gerade in der sogenannten Wiederannäherungskrise zur Mutter. Es kann nun gehen und sprechen und realisiert, dass es von der Mutter getrennt existiert. Diese Erkenntnis verunsichert. Kommt nun ein zweites Kind auf die Welt und fordert viel mütterliche Aufmerksamkeit, verstärkt das die Krise beim ersten Kind.»

Im Gegensatz dazu habe ein etwa vierjähriges Kind viel mehr Möglichkeiten, auf das Geschwisterchen einzugehen. «Dieses Kind fühlt sich gleichwertig. Weil es das Verhalten der Mutter dem jüngeren Kind gegenüber kopieren kann.» Doch warum streiten sich Geschwister auch und gerade im Teenageralter, wenn sie doch eigentlich schon klüger sind? Oder bekommen sich manchmal erst als Erwachsene so richtig in die Haare? Marie-Claire Zingg erklärt: «Mit der Adoleszenz grenzen sich Brüder und Schwestern voneinander ab, gehen ihren eigenen Weg. Das ist eine gesunde Entwicklung – später wird man sich wieder näher kommen.»

Und die erwachsenen Streithähne? Zingg: «Gerade wenn es ans Erben geht, können alte Konflikte wieder hoch kommen. Neid und Eifersucht. Viele kleine Verletzungen kommen da manchmal zur Abrechnung.» Und seien die Eltern die einzige Klammer zwischen den Geschwistern gewesen, fielen diese beim Tod der Eltern auch eher auseinander.

Eine hohe Geschwisteranzahl stellt für die Psychoanalytikerin nicht zwingend einen Grund für mehr Streitereien unter denselben dar, auch wenn die Ergebnisse der eingangs erwähnten britischen Studie dies vermitteln. Im Gegenteil: «Sind mehr Geschwister vorhanden, gibt es auch mehr Ausweichmöglichkeiten.» Mobbe einen der eine Bruder, beschütze einen womöglich der andere. Zingg ist der Ansicht: «Je mehr Leute sich kümmern, desto besser für die Kinder. Grossfamilien sind diesbezüglich der typischen Kleinfamilie überlegen.»

Eine Beziehung pflegen, statt Regeln zu setzen

Zuletzt legt die Psychoanalytikerin noch Wert auf diese Erkenntnis: «Erziehung heisst für mich nicht, klare Regeln zu setzen. Erziehung heisst für mich, eine Beziehung zu pflegen. Tun Eltern dies, dann lernen ihre Kinder Wertschätzung und Werte von selbst. Eltern, die über Regeln erziehen, haben die Beziehung verloren.»

Hinweis
Bücher zum Thema: Peter Teuschel, «Das schwarze Schaf, Benachteiligung und Ausgrenzung in der Familie», Klett-Cotta 2014. Dorothee Adam-Lauterbach, «Geschwisterbeziehung und seelische Erkrankung», Klett-Cotta 2013.

Zu zweit durch die Windpocken: Geschwister schenken sich auch viel Liebe. (Bild: zVg)

Zu zweit durch die Windpocken: Geschwister schenken sich auch viel Liebe. (Bild: zVg)