«Unterm Strich wird nichts gespart»

Seit die Kantone für Behinderten-Institutionen zuständig sind, tragen diese eine höhere Selbstverantwortung. Das findet OVWB-Geschäftsleiter Peter Hüberli-Bärlocher gut. Wenig hält er von den Sparmassnahmen des Kantons St. Gallen.

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«Wenn es für Personen mit einer Behinderung keine passenden Wohn- und Arbeitsangebote gibt, verschlechtert sich ihr Zustand», sagt Peter Hüberli-Bärlocher, OVWB-Geschäftsleiter und Präsident des St. Galler Branchenverbands. (Bild: pd)

«Wenn es für Personen mit einer Behinderung keine passenden Wohn- und Arbeitsangebote gibt, verschlechtert sich ihr Zustand», sagt Peter Hüberli-Bärlocher, OVWB-Geschäftsleiter und Präsident des St. Galler Branchenverbands. (Bild: pd)

Herr Hüberli-Bärlocher, im neusten Jahresbericht des OVWB – dem Ostschweizer Verein zur Schaffung und zum Betrieb von Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten für Körperbehinderte – steht, dass die Nachfrage das Angebot übersteigt.

Peter Hüberli-Bärlocher: Das ist nicht nur bei unserer Institution so. Die Unterversorgung an Angeboten für Menschen mit körperlichen Behinderungen oder mit Hirnverletzungen – anders als für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung – im Kanton St. Gallen ist bekannt. Der Kanton hat aber eine Gewährleistungspflicht: er muss Plätze schaffen oder ausserkantonal zahlen, wenn Betroffene dort Hilfe beanspruchen. Allerdings kennt nicht nur St. Gallen eine Unterversorgung.

Wo gehen die hin, die keinen Platz haben?

Hüberli: Für Personen, die einen stationären Wohnplatz brauchen, sind die Pflegeheime ein Puffer. Über 200 Personen im IV-Alter – also über 18, aber noch nicht 65 – leben in Pflegeheimen. Die sind aber auf Aufenthalte von zwei bis drei Jahren, den letzten Lebensabschnitt, ausgerichtet.

Und beim Arbeiten?

Hüberli: Wer keinen Platz findet, hat keine Alternative. Viele Menschen, die ein Angebot nötig hätten, nehmen keine Hilfe in Anspruch. Das belastet sie und ihr Umfeld – bis hin zu psychischen Erkrankungen, die dann auch wieder kosten.

Das ist unsozial. Wer besser für sich einstehen kann, findet eher einen Platz oder ein Angebot . . .

Hüberli: Ja. Oder wer ein Umfeld hat, das sich einsetzt. In diesem Zusammenhang steht auch die «Scheininvalidität». Die grösste Gruppe der Personen mit einer echten Behinderung jedoch will arbeiten Aber es braucht auch Angebote und das Wissen, wie man da hinkommt.

Was ist die Lösung?

Hüberli: Ab 2014 gibt es laut dem neuen kantonalen Behindertengesetz eine professionelle Bedarfsplanung in Zusammenarbeit mit den Behindertenorganisationen. Bis jetzt meldeten die Institutionen ihren Platzbedarf und wiesen ihn nach. Neue Angebote hingen davon ab, ob eine Institution dies organisatorisch schaffte. Von jetzt an klärt der Kanton wie bei den Spitälern ab, wo es einen Bedarf gibt und wer ihn abdecken könnte.

Haben Sie ein konkretes Projekt?

Hüberli: Zusammen mit der Stadt Rapperswil-Jona planen wir für Personen, die nicht in Pflegeheime gehören, eine Wohngruppe mit punktuellen Spitex- beziehungsweise Assistenzdienstleistungen. Diese Lösung ist überall, dezentral und ohne übermässige Infrastruktur möglich. Es genügen Wohnungen, die mit relativ geringem Aufwand hindernisfrei umgebaut werden.

Trotzdem, in den letzten Jahren wurden – gerade auch bei Ihnen – immer wieder Angebote geschaffen. Ist denn die Zahl der Betroffenen, die einen Platz brauchen, gestiegen?

Hüberli: Das Bild ist vielfältig. Personen mit Hirnverletzung haben dank medizinischem Fortschritt grössere Überlebenschancen, sind dann aber oft schwerer behindert. Bei den Personen, die mit einer Behinderung geboren werden, stieg die Zahl nicht an.

Manchmal wollen Betroffene gar nicht so viel Hilfe.

Hüberli: Deshalb reden wir von funktionaler Gesundheit. Das heisst, dass die Person selber bestimmt, was sie kann und wo sie Unterstützung braucht und sich hin entwickeln will. Es braucht eben nicht nur – quantitativ – einen Platz, sondern auch – qualitativ – eine funktionsgerechte Unterstützung. Sonst verschlechtert sich der Zustand einer Person.

Deshalb wollen Sie stufenlose Angebote von stationär bis ambulant. Aber wird das denn nicht immer teurer, je mehr Angebote es gibt?

Hüberli: Es wird billiger. Leute in einer stationären Einrichtung werden 24 Stunden an 365 Tagen betreut. Der klassische Heimplatz ist das Teuerste, und viele brauchen den nicht. Hier ist die Zusammenarbeit der Einrichtungen wichtig. Steht die Betreuungskette, können sich einige Betroffene schrittweise hin zu einer grösseren Selbständigkeit, also weniger Betreuungsbedarf, entwickeln.

Hat die Stufenlosigkeit auch damit zu tun, dass Behinderungen in den vergangenen Jahren weniger eindeutig wurden?

Hüberli: Ein Mensch muss ganzheitlich angesehen werden. Zum Beispiel entwickeln Leute mit einer Hirnverletzung meist auch psycho-soziale Auffälligkeiten.

Seit der Kanton die Einrichtungen finanziert, haben die Institutionen mehr Selbstverantwortung und tragen ein höheres betriebswirtschaftliches Risiko. Ist das nicht eine Abkehr vom Kerngeschäft?

Hüberli: Im Gegenteil. Die früheren rigiden Kontrollen schränkten den Betrieb ein. Die heutigen globalen Budgets sind sinnvoller.

Behinderten-Einrichtungen mit «überdurchschnittlichen Kosten» müssen gemäss drittem St. Galler Sparpaket 5,6 Millionen Franken einsparen. Werden nun trotz der Platznot Plätze abgebaut?

Hüberli: Nein. Aber weil bei den Betroffenen mit überdurchschnittlichem Betreuungsaufwand der Betrag nicht einzusparen ist, wird man die Grenzen verschieben müssen, so dass auch durchschnittlich teure Angebote noch zu teuer sind. Also wird beim Personal gespart werden, was zu einer Qualitätseinbusse führen wird. Weil aber der Kanton gemäss Bundesrecht trotzdem die Versorgung gewährleisten muss, ist im Sparpaket eine Progression vorgesehen, so dass langfristig dennoch zusätzliche Plätze geschaffen werden können.

Wenn Personen mit einer Behinderung nicht den richtigen Platz zum Wohnen haben, entwickeln sie oft psychische Probleme. Das belastet dann einfach ein anderes Kässeli.

Hüberli: So ist es. Deshalb wird unter dem Strich mit der Sparmassnahme oder wenn kein bedarfsgerechtes Platzangebot vorhanden ist, nichts gespart, im Gegenteil. Mit dem im Juni 2012 verabschiedeten neuen Finanzierungskonzept hingegen könnten Einsparungen erzielt und neue Plätze am richtigen Ort geschaffen werden. Es geht von vier Jahren Übergangsfrist aus und beruht auf der Festsetzung der Höchstansätze der Leistungsabgeltung.

Interview: Michael Walther