Jugendkultur
«Güllens grünes Gemüse»: Ein halbes Jahrhundert bewegte Jugend in St.Gallen

Freiräume für Junge und ihre Kultur sind heute in St.Gallen eine Selbstverständlichkeit. Das war nicht immer so, wie eine neue Publikation zeigt. Am Freitag ist Vernissage in der Jugendbeiz Talhof.

Reto Voneschen
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Passanten vor dem über Weihnachten und Neujahr 1988/1989 besetzten Hotel Hecht am Bohl. Diese Besetzung markiert einen Wendepunkt in der städtischen Jugend- und Drogenpolitik.

Passanten vor dem über Weihnachten und Neujahr 1988/1989 besetzten Hotel Hecht am Bohl. Diese Besetzung markiert einen Wendepunkt in der städtischen Jugend- und Drogenpolitik.

Bild: Stadtarchive St.Gallen/Sammlung Karl Künzler/Regina Kühne

Am Freitagabend hat in der Jugendbeiz Talhof die neue Publikation «Güllens grünes Gemüse» Vernissage. Der Band ist der Versuch, ein halbes Jahrhundert Stadtsanktgaller Jugendkultur und Jugendarbeit auf rund 320 Buchseiten Revue passieren zu lassen.

Der Text ist breit angelegt und vor allem reichhaltig mit Fotos aus den jeweiligen Epochen zwischen den 1960er- und den 2010er-Jahren illustriert. Der Bildteil dürfte nicht zuletzt für jene reizvoll sein, die damals dabei waren.

Vom Aufbruch über den Widerstand zur Blüte

Open Air, Grabenhalle, Schwarzer Engel, Jugendbeiz Talhof, Kinok, Poetry Slam, Kugl, Palace, Skatepark, Saiten, Rümpeltum, Flon, Jungkult-Festival sind nur einige Elemente der heutigen Jugendkultur in der Stadt St.Gallen. Entstanden sind sie seit den 1960er-Jahren Schritt um Schritt.

Drahtzieher waren meist junge Engagierte, die sich bis in die 1990er-Jahre hinein gegen Behörden, Politik und auch die öffentliche Meinung ihre Freiräume teils hart erkämpfen mussten.

Analog zu Zürich kam es Anfang der 1980er-Jahre auch in St.Gallen zu «Jugendunruhen». Befeuert wurden sie unter anderem im Januar 1981 durch den Abbruch des beliebten Szenetreffs Posthalle an der Langgasse.

Analog zu Zürich kam es Anfang der 1980er-Jahre auch in St.Gallen zu «Jugendunruhen». Befeuert wurden sie unter anderem im Januar 1981 durch den Abbruch des beliebten Szenetreffs Posthalle an der Langgasse.

Bild: Stadtarchive St.Gallen/Sammlung Karl Künzler und Regina Kühne

Dass es den Jungen dabei immer wieder gelang, politische und gesellschaftliche Barrieren einzureissen, war die Voraussetzung fürs heutige reichhaltige Angebot. Aufzublühen begann die St.Galler Jugendkultur in den 2000er-Jahren. Wichtig dafür war, dass ihre Akzeptanz und Unterstützung ab den späten 1990er-Jahren in Politik und Verwaltung sprunghaft zunahm. Eine wichtige Rolle dabei spielte und spielt bis heute das 1974 gegründete Jugendsekretariat.

Ein kompakter Überblick

Wie ein erster Blick in den Band zeigt, ist «St.Gallens grünes Gemüse» nicht das endgültige Geschichtsbuch über die bewegte Stadtsanktgaller Jugend und ihren Kampf um Freiräume zwischen 1968 und 2020. Dafür lotet der Text die angeschnittenen Fragen zu wenig tief aus. Vorgelegt wird ein Band, der das Thema im groben Überblick und kompakt darstellt. Die lokalen Entwicklungen werden dabei in internationale und nationale Trends eingebettet.

Kundgebung gegen St.Galler Wohnungsnot in den 1980er-Jahren. Mangel an billigem Wohnraum und die Verelendung der Drogenszene trieb damals auch in St.Gallen junge Leute auf die Strasse.

Kundgebung gegen St.Galler Wohnungsnot in den 1980er-Jahren. Mangel an billigem Wohnraum und die Verelendung der Drogenszene trieb damals auch in St.Gallen junge Leute auf die Strasse.

Bild: Stadtarchive St.Gallen/Sammlung Karl Künzler/Regina Kühne

Sichtbar wird im neuen Buch über die Stadtsanktgaller Jugend, ihre Kultur und ihren Kampf für Räume vor allem der rote Faden, der sich beim Thema von heute bis zurück in die 1950er-Jahre ziehen lässt. Für alle, die sich einen raschen und trotzdem umfassenden Überblick über das Thema verschaffen wollen, ist die Neuerscheinung Pflichtstoff. Als ideale Vertiefung empfiehlt sich das Neujahrsblatt des Historischen Vereins von 2016 über «Neue soziale Bewegungen in der Ostschweiz»; hier findet sich viel ergänzendes Material nicht nur zur Affäre Rotes Herz oder die gerichtliche Verfolgung der Untergrundzeitung «Roter Gallus».

Der Zorn der Jungen entlud sich in den 1980er-Jahren immer wieder wegen des drohenden Mangels an günstigem Wohnraum in St.Gallen. Im Bild ein Transparent an einer durch ein grosses Postverteilzentrum vom Abbruch bedrohten Altliegenschaft hinter dem Hauptbahnhof.

Der Zorn der Jungen entlud sich in den 1980er-Jahren immer wieder wegen des drohenden Mangels an günstigem Wohnraum in St.Gallen. Im Bild ein Transparent an einer durch ein grosses Postverteilzentrum vom Abbruch bedrohten Altliegenschaft hinter dem Hauptbahnhof.

Bild: Stadtarchive St.Gallen/Sammlung Karl Künzler und Regina Kühne

Vernissage und Themenabend

Das neue Buch «Güllens grünes Gemüse» feiert am Freitag, ab 18 Uhr, in der Jugendbeiz Talhof seine öffentliche Vernissage. Auf dem Programm steht die Vorstellung der Publikation durch Autorin Simone Meyer und das Büro Sequenz sowie die Podiumsdiskussion «Von der Konfrontation zum Dialog».

Dem neuen Buch ist zudem am Donnerstag, 15. Dezember, ein Themenabend im Schwarzen Engel und in der Grabenhalle gewidmet. Ab 18 Uhr stellt Autorin Simone Meyer ihre Publikation vor, danach präsentiert Jogi Neufeld eine «Soundlecture». In der Grabenhalle stehen Konzerte der Rams und The Roman Games auf dem Programm (Türöffnung 20 und Konzertbeginn 21 Uhr). (sk/vre)

Kein Anspruch auf Vollständigkeit

Autorin Simone Meyer erhebt keinen Anspruch darauf, vollständig und abschliessend über Jugendbewegung und Jugendkultur in St.Gallen zu schreiben. Die detaillierte wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas würde «eine Festschrift» zum 50. des städtischen Jugendsekretariats (heute Dienststelle «Kinder, Jugend, Familie», kurz KJF) sowieso sprengen.

Sie wäre wohl auch nicht der richtige, nämlich ein wirklich neutraler Ort dafür. Herausgeberin des Bandes ist die Stadt St.Gallen. Und obwohl sich die Autorin um Ausgeglichenheit in der Darstellung bemüht, scheint an der einen oder anderen Stelle halt doch die Sicht der Behörden durchzudrücken.

In den 2000er- und den 2010er-Jahren war die St.Galler Jugend unpolitischer als auch schon. Was nicht heisst, dass ein Teil von ihr wie etwa 2017 gegen das Managementsymposium an der HSG auf die Strasse ging.

In den 2000er- und den 2010er-Jahren war die St.Galler Jugend unpolitischer als auch schon. Was nicht heisst, dass ein Teil von ihr wie etwa 2017 gegen das Managementsymposium an der HSG auf die Strasse ging.

Bild: Reto Voneschen (29. April 2017)

Dazu gehört, dass je näher der Text an die heutige Zeit heranrückt, desto unpolitischer wird er. So geht etwa der politische Wirbel ums neue, 2005 von den städtischen Stimmberechtigten angenommene Polizeireglement unter. Ebenfalls ausgeklammert bleibt beispielsweise der erfolglose politische Kampf von 2014 um die Ausquartierung der Rösser und die Einrichtung eines jungen Kulturraums in der Reithalle. Ebenfalls keine Erwähnung finden politische Aktionen wie «Augen auf», «Aktiv unzufrieden» und «Zigaukel» oder zeitweise sehr aktiv und auch provokativ operierende Jungparteien wie die Juso. Klar wird gerade auch dadurch: An Stoff für weitere Bücher und Artikel über die bewegte Jugend fehlt es in der Stadt St.Gallen keinesfalls.

Hinweis: «Güllens grünes Gemüse» erscheint am 2. Dezember in der Schriftenreihe der Stadt St.Gallen. Es ist für rund 38 Franken am Infodesk im Rathaus, bei der Verlagsgenossenschaft (vgs-sg.ch) oder im Buchhandel erhältlich.