Unsere neue Kolumnistin Carla Maurer ist nach London ausgewandert und hat sich erst kürzlich einbürgern lassen – mit gemischten Gefühlen.
Es fühlt sich fast ein bisschen wie Betrug an, als Ausland-St.Gallerin eine Kolumne im «St.Galler Tagblatt» zu schreiben. Ich habe mich vor 23 Jahren aus der Gallusstadt verabschiedet, zuerst über die Kantonsgrenzen nach Bern, dann über Landesgrenzen nach Strassburg und weiter über den Ärmelkanal nach London.
Seit Beginn dieses Jahres bin ich sogar britisch-schweizerische Doppelbürgerin. Im März wurde ich in einer Zeremonie in Camden Townhall als britische Staatsbürgerin und somit als Subjekt der Queen und ihrer Nachfolger eingeschworen. Nicht etwa ein fundamentaler Identitätswandel hatte mich zu diesem Schritt bewogen, sondern der Brexit. Ich habe zwar nach Beendigung der Personenfreizügigkeit den «Settled Status» erworben, diesen kann ich aber bei Wegzug ins Ausland wieder verlieren. Zudem wollte ich meinen Schwur unbedingt noch auf die Königin ablegen! Das war knapp. Mittlerweile ist mein britischer Identitätsanteil Subjekt von König Charles III.
Bei der Einbürgerungszeremonie war das Bild der Queen auf eine Wand projiziert. Die rund 15 Neubürgerinnen und -bürger sprachen gruppenweise den Schwur nach. Ich ging zugegebenermassen mit einer gewissen Nonchalance in diese Zeremonie. Den Einbürgerungstest (auch liebevoll ‹Pub Quiz› genannt) hatte ich bestanden, den Sprachtest auch, hatte über 3000 Pfund hingelegt, und nun noch schnell die Einbürgerung in der Mittagspause. Doch dann überkamen mich unerwartete Emotionen. Mit mir wurden Menschen aus Kolumbien, Nepal und Somalia eingebürgert. Die Nonchalance wich der Bescheidenheit.
Der Mann aus Somalia stand feierlich im Anzug da, und mir wurde schlagartig bewusst, wie zukunftsweisend eine neue nationale Identität je nach angeborener Staatszugehörigkeit sein kann. Als Schweizerin lebt es sich unbeschwert auf unserem in Nationalterritorien aufgeteilten Planeten. Mit einem somalischen Pass eine Grenze zu überqueren, ist ein anderes Kaliber. Und so füllte mich mein neuer Pass mit Stolz und Demut. Ich wurde in der gleichen Zeremonie wie alle diese Weltenbürgerinnen und -bürger zur Britin.
Meine Einbürgerung kommt dennoch mit gemischten Gefühlen. Einerseits spüre ich fast so etwas wie Verrat an meiner Schweizer Herkunft, als hätte ich etwas zurückgelassen. Andererseits bin ich stolz, für zwei Nationen zu stehen, mich in zwei Welten, zwei Sprachen, zwei Kulturen zu bewegen.
Nationale Zugehörigkeit ist unglaublich stark in uns verankert, obwohl der Nationalstaat ein eher junges Gebilde in der Geschichte der Menschheit ist. Dieser Zugehörigkeitsstolz wird in dem Moment absurd, wenn man eine neue Nationalität annimmt. Im Endeffekt ist eine Einbürgerung nichts als zeremonieller Pomp, ein Stück Papier, Geld von Konto zu Konto geschoben, mühsame Behördengänge.
Aber meine Identität ist eigentlich weder rot noch blau, sondern grün, oder noch präziser: weiss, mit einem schwarzen Bären. Im Kern bin ich ein St.Galler Meitli durch und durch, eine Lokalpatriotin. Ich erzähle meinen britischen Amtskollegen besonders gerne von unserem Stadtreformatoren Vadian, den Zwingli aus Wien zurückgeholt hatte, und von ‹unserem› irischen Mönch Gallus, nach dessen Herkunftsort die Talstation des Mühleggbähnli benannt ist. Migranten, so wie ich.
Carla Maurer stammt aus St.Gallen und ist Pfarrerin in der Swiss Church in London. Weiter betreibt sie den Podcast Pubs & Souls auf reflab.ch. Maurer schreibt diese Kolumne immer montags im Turnus mit Toni Brunner, Walter Hugentobler und Ulrike Landfester.