Trinkgeld In den Ferien sind wir besonders grosszügig mit dem Trinkgeld. Es erscheint uns selbstverständlich – doch das ist Trinkgeld nicht. Viele haben es schon verbieten wollen und sind gescheitert. Sogar Hitler. Rolf App
Es ist eine einigermassen schwierige Besichtigung, die der französische Schriftsteller Victor Hugo Ende der 1839er-Jahre auf seiner Reise durch das Rheinland unternimmt. Er betritt eine Kirche, vielmehr: Er will sie betreten, doch sie ist verschlossen. Ein altes Weiblein weiss Rat, gegen Trinkgeld. Der Pförtner kommt und lässt ihn ein. Gegen Trinkgeld. Das schöne Altarbild ist verhüllt, man kann es sehen. Gegen Trinkgeld. So geht es weiter.
Die Kapelle, der Turm, diese und jene Schatzkammer: Das ist alles nur zu betreten gegen eine milde Gabe.
Solche zum Teil recht absurden Geschichten erzählt Winfried Speitkamp in einer launigen Kulturgeschichte* des Trinkgelds. Manchmal war's ein Kampf ums Trinkgeld, manchmal einer gegen das selbe. Manchmal findet sich der Gast in einer starken Position, manchmal muss er ziemlich untendurch.
Wie jener australischer Reisende, der in Moskau abgestiegen ist. Am Ende seines Aufenthalts in einem Moskauer Hotel gibt er zwei Zimmermädchen und einem Kellner ein grosszügiges Trinkgeld und denkt, damit sei's getan. Doch weit gefehlt. Kaum kommt der Mann hinunter in die Halle, betätigt der Hotelbesitzer – ein Schweizer – die Klingel: Rund zwanzig Bedienstete nehmen nun Aufstellung, jeder erwartet etwas. Der Gast aber weigert sich, und muss darauf das Gepäck selber zum Wagen tragen.
So geht es zu im 19. Jahrhundert, es ist kein Vergleich zu heute.
Was aber geblieben ist: Wir geben Trinkgeld, und wir geben es nach einem schwer durchschaubaren System. Dass wir in den Ferien grosszügiger sind als sonst, mag noch zu erklären sein. Doch warum erhält der Kellner ein Trinkgeld, der Koch aber nicht? Weil wir ihn zu Gesicht bekommen? Doch warum dann das oftmals unsichtbare Zimmermädchen? Weil es eine Dienstleistung erbringt? Dann hätte der Pfarrer auch ein Trinkgeld verdient.
Oder der Briefträger. Die Menschen haben sich daran nie sehr gestossen. Auch die vielen Missstände werden lange toleriert – bis dann, am Beginn des 20. Jahrhunderts, der Versuch gemacht wird, das Trinkgeld gleich ganz abzuschaffen.
Wirklich gelingen will das aber niemandem, nicht einmal dem Diktator Hitler. Mehrere Verbote erlassen die Nazis, unter der Hand wird weiter Trinkgeld gezahlt.
So kann man verstehen, dass der grosse Satiriker Ephraim Kishon behauptet, mit dem Trinkgeld habe man unmittelbar nach der Erschaffung der Welt begonnen. Denn wahrscheinlich hätten schon Adam und Eva der Schlange «eine Kleinigkeit zugesteckt, zum Dank dafür, dass sie ihnen den richtigen Baum gezeigt hatte».
Nicht nur bei Adam und Eva liegen Trinkgeld und Bestechung nah beieinander.
Der Staatsmann Bismarck spricht in seinen Tagebüchern gern von «Trinkgeld», wenn er sich Gefälligkeiten erkauft. Und er beobachtet, dass der Bankier Levinstein unverhältnismässige Trinkgelder an seine, Bismarcks Dienerschaft verschwendet – mit Hintergedanken.
Manchmal ist Trinkgeld noch aus andern Gründen angebracht.
Wer sich im Mittelalter und in der frühen Neuzeit auf Reisen begibt, schwebt in der Gefahr, überfallen zu werden. Gibt er Trinkgeld, dann kommt er rascher voran – denn ein Postillon sagt es dem andern weiter.
Lange ist das Trinkgeld eine Art Lohn. Die Wirte des 19. Jahrhunderts bieten gegen ein angemessenes Trinkgeld auch durchaus einmal ein Mädchen an.
Die Verbindung von Gasthaus, Trinkgeldern und Prostitution ist alt; ein Grabstein aus der römischen Kaiserzeit gibt die Abrechnung eines Gastes wieder – «Das Mädchen, 8 As» ist der grösste Posten darauf.
In solchen Praktiken tritt das Entwürdigende des Trinkgelds zutage, vor allem dann, wenn die Bediensteten schlecht oder gar nicht entlöhnt werden. Ein Grossteil der Kellner bekommt im 19.
Jahrhundert keinen Lohn, mehr noch: Viele Wirte verlangen von ihnen allerlei Abgaben, für Gläserbruch, fürs Reinigen von Besteck oder Geschirr, für das Putzen des Gastraums, sogar für die Tinte zum Schreiben der Speisekarte. Bei einer Arbeitszeit bis zu 18 Stunden im Tag ist das happig.
Und es erstaunt nicht, dass da und dort die Gäste sogar drangsaliert werden, wenn sie keinen angemessenen Betrag herausrücken. Kellner verfolgen schon mal Kunden unter Beschimpfungen bis auf die Strasse.
Irgendwann jedoch wenden sich die Trinkgeld-Exzesse gegen die Sitte selbst. Trinkgeld ist entwürdigend für jene, die auf es angewiesen sind. Der Jurist Rudolf von Jhering bezeichnet es 1882 denn auch als «eine durch die Sitte organisierte Art der Bettelei».
Kampfschriften werden verfasst, Anti-Trinkgeld-Ligen entstehen, mit der Zeit auch trinkgeldfreie Hotels – als eines der ersten der «Schweizer Hof» in Luzern. Das Trinkgeld gilt als Türöffner für Alkoholismus, sexuelle Zügellosigkeit und Prostitution.
Doch hat auch der «Schweizer Hof» ein Problem. Ein Anschlag verkündet, dass die Angestellten des Hauses ausreichenden Lohn bezögen und deshalb kein Trinkgeld benötigten. Doch die Gäste bestehen darauf, sich mit Trinkgeld «nobel zu zeigen». «Man hat kein Recht, uns das zu verbieten.»
* Winfried Speitkamp: Der Rest ist für Sie! Kleine Geschichte des Trinkgeldes, Reclam, Stuttgart 2008, Fr. 14.90