Am Beispiel Hans Frölichers, des Schweizer Gesandten im Berlin der Nazidiktatur, diskutierten Frölicher-Biograph Paul Widmer und -Enkel Thomas Geiser an der HSG die Frage, wie ein Rechtsstaat mit einem Verbrecherregime umgeht.
ST. GALLEN. «Recht, Moral & Diplomatie» lautet der Titel, und es geht an diesem Montag am Institut für Rechtswissenschaft und Rechtspraxis (IRP) an der Universität St. Gallen um Hans Frölicher, den Schweizer Berlin-Gesandten, der wegen seiner anpasserischen Haltung gegenüber dem Naziregime in Verruf geriet. Es geht, «Ironie des Schicksals», wie Institutsdirektor Bernhard Ehrenzeller meint, aber im Hintergrund auch um Hans Nawiasky, Staatsrechtler und ebenfalls «Grenzgänger», notgedrungen auf der Flucht, nachdem Schlägertrupps seine Vorlesungen in München gestört hatten und Hitler den überzeugten Demokraten 1933 in den Ruhestand versetzen liess.
Nawiasky gründete 1938, im Jahr, da Frölicher seinen Posten antritt, das Institut für Verwaltungskurse, aus dem das IRP erwächst. Das älteste Institut der HSG feiert sein 75-Jähriges; als Festredner im Herbst ist mit Jakob Kellenberger, dem langjährigen Präsidenten des Roten Kreuzes, einer der international einflussreichsten Schweizer angekündigt.
Kellenberger hätte auch an diesem ersten Jubiläumsanlass zur Verbindung von Recht und Praxis etwas zu sagen gehabt, gewiss, als die Diskussion über die Beziehungen der Schweiz zu verbrecherischen Regimes die Rolle des IKRK streift – Syrien als aktueller Testfall für humanitäre Hilfe, die den Rebellen ebenso gerecht werden muss wie sie es sich mit der Assad-Diktatur nicht verderben kann. Denn Rotkreuzhelfer, denen Regionen oder ganze Länder versperrt bleiben, nützen ebenso wenig wie ein Botschafter, der wegen seiner erklärten Gegnerschaft zur unerwünschten Person wird – um es mit dem Beispiel des Schweizer Gesandten im faschistischen Italien, Paul Ruegger, zu sagen.
Ruegger, im Vergleich zu Frölicher als Lichtgestalt in die Geschichte eingegangen, machte gegenüber Mussolini wenig Konzessionen, musste aber vom Bundesrat abgezogen werden. «Da zeigt sich immer wieder das Dilemma der Diplomatie», gibt Paul Widmer zu bedenken. Der Diplomat und Historiker, seit 2011 Vertreter der Schweiz beim Heiligen Stuhl und Lehrbeauftragter für internationale Beziehungen an der HSG, korrigiert in seiner – in unserer Zeitung bereits gewürdigten – Frölicher-Biographie das Bild des «umstrittensten Schweizer Diplomaten» zugunsten des Angeklagten. Man könne dem Gesandten im Nazi-Berlin vieles vorwerfen, etwa die «schlechte Politik» eines vorauseilenden Gehorsams in Bern und seine Verkennung der «diabolischen Natur des Naziregimes». Doch man müsse «froh und dankbar sein», so Widmer, dass er seinen Part «in einem Szenario, in dem die Schweiz viele Konzessionen machte, gut spielte» – zum Vorteil unseres Landes, das um seine Existenz fürchtete.
Welche Kompromisse musste er, welche hätte Frölicher nicht eingehen dürfen? Wem nützte seine Sündenbock-Rolle? Solche Fragen wirft HSG-Rechtsprofessor Thomas Geiser auf, der sich als Enkel – seine Mutter war die Tochter Frölichers – an den Schmerz des Grossvaters erinnert. «Er war überzeugt, seine Aufgabe gut erfüllt zu haben, und empfand die Vorwürfe als Ungerechtigkeit und seine Abberufung als tiefe Verletzung», so Geiser, der neun war, als Frölicher 1961 verstarb. Sein Grossvater, als Sohn einer Zürcher Industriellenfamilie «sehr bürgerlich» («lieber tot als rot») und selbstsicher, habe «eine gewisse Überheblichkeit» an den Tag gelegt, «sich nicht vor der Gesellschaft verantworten zu müssen» – und demnach nie zu den Vorwürfen Stellung genommen. Er sei aber ein «wirklicher Republikaner» gewesen, der «mit jedem Kontakt haben konnte, ohne zu werten», so Geiser. Wohl sei er «auf den deutschen Kulturraum fixiert» gewesen, aber nie habe man in der Familie einen Hinweis auf – ihm unterstellte – Nazi-Sympathien erhalten. «Sicher falsch» sei der Vorwurf des Antisemiten: «Mein Vater war Halbjude und das war nie ein Thema oder Problem.» Unerwähnt bleibt Geisers Schriftsteller-Bruder Christoph, der 1970 mit dem Aufsatz «Der Anschluss fand statt» die kritische Debatte zur Geschichte der Schweiz im Zweiten Weltkrieg vorwegnahm.
Die Lehren für die Gegenwart? Obwohl im Gegensatz zu damals die Menschenrechte eine wichtige Rolle spielen, bleiben manche Beziehungen schwierig. Widmer nennt das Beispiel Tim Guldimanns, des heutigen Botschafters in Berlin, der in Tschetschenien auch mit Warlords verkehrte. Und Jenö Stähelin, ehemaliger UNO-Botschafter in New York, erzählt vom Dilemma mit Turkmenistan: «Pocht die Schweiz auf Menschenrechte oder will sie in eine Weltbank-Gruppe mit solchen Ländern?» Die Vergangenheit vergehe nie, hat Moderator Roland Kley, Professor für Politikwissenschaft, einleitend gesagt – mit Blick auch auf 19 ausverkaufte Grüninger-Theatervorstellungen und eine anwesende Kantiklasse. Wenn Vergangenes so spannend «nach vorn» diskutiert wird, stösst das zu Recht auf Interesse – dem gleichzeitigen HSG-Vortrag «Warum der Euro scheitert» zum Trotz.