Kleine Schreiblehre für Journalisten II

Der Wortschatz eines Journalisten ist eine abenteuerliche Variable, er dümpelt im notwendigen Bereich von etwa zweihundert Wörtern (gehört zum Grundwortschatz einer Fremdsprache) und greift bis zu den Sternen, zwanzigtausend, dreissigtausend Wörtern.

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Der Wortschatz eines Journalisten ist eine abenteuerliche Variable, er dümpelt im notwendigen Bereich von etwa zweihundert Wörtern (gehört zum Grundwortschatz einer Fremdsprache) und greift bis zu den Sternen, zwanzigtausend, dreissigtausend Wörtern. Der Journalist mit dem Grundschulwortschatz ist nicht unbedingt der schlechtere Journalist verglichen mit jenem, der einen Wortschatz wie ein wuchernder Urwald hat. (Du musst in Deiner Dürftigkeit also keinen Knacks bekommen.)

Und jetzt sind wir beim Stil, und das heisst wesentlich bei der Methode, wie man ein Problem darstellt, es durchleuchtet, und das wiederum ist eine Sache des präzisen Denkens.

1. Im Stil liegt das Wunder der Schreibkunst.

2. Zeig nie, dass Du etwas nicht verstehst, wirble einfach drauflos, bleibe höchstens klar in der Unklarheit, der Leser versteht ja sowieso kaum etwas.

3. Peter Bichsel hat einen Wortschatz von bloss zweitausend Wörtern (und er ist doch sackstark!), Hermann Hesse von dreissigtausend, Goethe von sechzigtausend, Victor Hugo von zweiundsiebzigtausend. Wer ist der bessere Schriftsteller? Falsche Frage, der Wortschatz allein ist nicht das A und O der Schreibkunst; gräme Dich also nicht, Journalist, wenn Dein Wortschatz dürftig ist.

4. Der Stil kann hitzig wie die Wüste sein oder orgelnd wie ein Ozean: Beides ist faszinierend.

5. Wiederholungen müssen Dich nicht betrüben, denke an die Litaneien, die dadurch gross sind, weil sie gewisse Denkelemente pausenlos wiederholen und dadurch einprägsam sind. (Rosenkranzbeter kommen in den Himmel.)

6. Wirf Deinen Artikel in heiterer Gelassenheit aufs Papier, er wird auch in der Entgleisung wenig beachtet.

7. Der Wahrheitsgehalt ist zweitrangig, denn bei geeigneter Definition der Wahrheit wird alles wahr.

8. Wenn Dir zu einem Auftragsthema nichts zu schreiben einfällt, juble auf, denn dann steckst Du in einer schöpferischen Krise, die Dich früher oder später die berufliche Karriereleiter aufsteigen lässt.

9. Scheue Dich nicht vor Plagiaten, schreibe ruhig von andern ab, verpacke aber alles in einem schönen Geschenkpapier.

10. Im Journalismus geht es ums Tägliche, Alltägliche, doch tu stets so, als ob's wichtig wäre, ein für alle Mal und überhaupt.

Das, was der Journalist schreibt, draufloswerkelt, ist immer nahe an einer «absichtlichen Zufallsproduktion», bleibt eine Unschärferelation und ist gerade durchs Ungenaue, Verwinkelte, Gezinkte, Ungefähre ein Lesefrust – ich meine eine Leselust.

Paul Gisi