Es entsteht der Eindruck, Europa befinde sich wie 2015 am Rande einer Flüchtlingskrise mit Hunderttausenden anstürmenden Migranten. Doch das Gegenteil ist der Fall.
Politiker sind ein eigener Menschenschlag. Um sie zu verstehen, hilft einem meist eine Prise Sigmund Freud. Denn allzu oft stimmt genau das Gegenteil von dem, was ihnen gerade über die Lippen geht. So wie beim österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz, der am Rande des Migrationsgipfels in Brüssel beteuerte: «Es geht hier nicht um den innerdeutschen Streit.» Natürlich geht es um den innerdeutschen Streit. Genauer: Es geht um die Angst der bayerischen CSU, bei der kommenden Landtagswahl von der AfD bedrängt zu werden. Deshalb treibt sie Merkel vor sich her und zwingt sie, vier Tage vor dem offiziellen Treffen der EU-Staats- und -Regierungschefs ein ausserordentliches Krisenmeeting zu erwirken.
Die Folge: Es entsteht der Eindruck, Europa befinde sich wie 2015 am Rande einer Flüchtlingskrise mit Hunderttausenden anstürmenden Migranten. Das Gegenteil ist der Fall. Die Migrationszahlen sind so tief wie seit Jahren nicht mehr. Dass dies das Resultat eines bereits verstärkten Aussengrenzschutzes, von Migrationsabkommen wie jenem mit der Türkei und eines stärkeren Engagements in den Herkunfts- und Transitstaaten sein könnte, fällt gerne unter den Tisch.
Freilich: Die EU kann noch mehr tun, um Probleme mit irregulärer Einwanderung anzugehen und solidarische Lösungen herbeizuführen, die die Migrationslasten auf mehrere Schultern verteilen. Wenn nun eine neue Dynamik dazu beiträgt, politische Blockaden zu überwinden, umso besser. Aber man sollte eine Krise richtig benennen: In diesem Fall sicher keine Migrations-, sondern eine hausgemachte Politkrise.