Analyse
Zu viel Heuchelei im Sport: Über das vorläufige Ende der olympischen Träume

Max Dohner
Max Dohner
Drucken
Die Olympia-Bahn in Sotschi.

Die Olympia-Bahn in Sotschi.

KEYSTONE/EPA/TOBIAS HASE

Sotschi – erinnern Sie sich? Natürlich nicht, wozu auch. An eine freiwillige Helferin hingegen darf noch einmal erinnert werden, 48 Stunden nach dem Erlöschen des olympischen Feuers im Wallis: Nachdem die Spiele in Sotschi beendet waren, gönnte sich diese Freiwillige wie rund 25 000 andere noch etwas Erholung. Von Winter auf Sommer umzustellen, fiel ihr leicht: Das Meer bei Sotschi liegt in der Nähe. Die Freiwillige war während der Spiele angewiesen worden, immer zu lächeln, weil Russen nicht dafür bekannt seien, oft zu lächeln. «Drei oder vier Monate nach den Spielen», sagte die Frau, «wird man sich nicht einmal daran erinnern können, was da passiert war. Das alles spielt indes absolut keine Rolle im Vergleich zu der Euphorie, die wir hatten.»

Nun sind nicht immer alle freiwillig Olympischen Spielen ausgesetzt – und vielleicht darum auch mässig euphorisch. Nicht nur Russen muss man den Befehl erteilen, bei Olympia zu lächeln. Auch Bündnern, Deutschen, generell Europäern. Überall wo die Leute gefragt werden, was sie von solchen Spielen halten. Dann bekunden sie gern frei ihren Willen. Wenigstens hierzulande, was zu einem nicht geringen Teil auch euphorisch machen kann. Olympia-Funktionäre finden Freiwillige an der Urne natürlich lästig. Es genügt, wenn das Volk im Zielraum Claqueur spielt, die Tafeln der Sponsoren-Logos nicht verstellt und hinterher die Steuerzeche bezahlt.

In der stillen Ecke einer Fünf-Sterne-Lobby in Gstaad, St. Petersburg oder Katar werden sie sich bestimmt wiederholt beraten haben: die «Ambassadeurs des Sports», um eine Selfie-Qualifikation von Sepp Blatter abzuwandeln. Klar, Diplomatenhabitus ohne dornenreiche Pflichten. Darüber beraten, wie man diese lästigen Wassergräben der Demokratie austrocknen könnte. Seit geraumer Weile kann man nicht einfach mehr im gestreckten Galopp drübersetzen. Stattdessen fliegt man regelmässig vom hohen Ross und hockt dann wieder da wie begossene Pudel in der Fünf-Sterne-Lobby-Pfütze.

Sie haben ihre Dossiers doch gründlich überarbeitet! Grüner Jargon, grüne Tünche. Sie haben zum Teil wirklich deutlich abgespeckt. Sie haben auch ihre Strukturen reformiert! Um jetzt dennoch zum wiederholten Mal zu scheitern?

Nun kann wohl kaum jemand die Mischung der Gründe schichten, die den Olympiawahn im Wallis beendet haben. Man traute diesem Milchbüchli nicht: Überall wird gespart, auch an der Bildung, aber für den Sportzirkus sprudeln Millionen? Dann tragen die üblichen Verdächtigen der Funktionärskaste nicht plötzlich neue Gesichter, nur weil man sich für die Abstimmungs-Show einige gutmütige Gummimasken übergestülpt hatte. Es war das Geld – nicht nur. Es war die Ökologie – wohl nicht allein. Es war vielleicht einfach: Man hat von der Heuchelei genug.

Bitterster Boden der Heuchelei: Es gehe bei den Olympischen Spielen um Sport. Ging es vermutlich nie. Nicht mal in den graeco-schwülen Träumen Pierre de Frédys, Baron de Coubertin. Edle Einfalt, stille Grösse – statt Ballermann schon bei der Startnummervergabe. Mars, der Gott – nicht Marsriegel. Amateure auf Vierspännern – kein Super-G um die Fahnen von Audi Quattro. Pädagogenkitsch im Sport, auch das endete grotesk. Reiner Kommerz ist wenigstens bein-ehrlich. Aber dann soll man den Claqueuren von Live-Übertragungen dies nicht als «einmaliges Ereignis» verkaufen, das «ewig in Erinnerung bleibt».

Der Fluch der Sportewigkeit ist, dass sie eine derart kurze Halbwertszeit hat. Was sogar Freiwilligen nicht entgeht. Wie soll es auch anders sein? Leeres Getriebe hat keinen Denkwürdigkeits-Wert, nicht nur im Sport. Der moderne Sport aber ist eine der geöltesten Maschinen gedankenfreien Physio-Klamauks geworden. Überall dort, wo der Sport sinnfrei von Kultur bleibt, nicht bloss behübscht wird mit Kultur als Dekor, ist er steril und seine «Emotion» artifiziell. Genau das wittern Stimmbürger: Olympia enthält keine Zukunft und braucht drum auch keine.

Und jetzt soll die Schweiz wieder mal ein Réduit sein der Gartenzwerge? Nichts Grosses schaffen können? Erstens: Aufgeblasen ist nicht gross. Zweitens: Oft die gleichen Leute flöteten entzückt über das «Jahrhundert-Bauwerk» Neat-Basistunnel, ergriffen darüber, «was die Schweiz da Grossartiges zustandegebracht» habe. Also was jetzt? Der Kluge fährt im Zuge. Wenn der Zug der Zeit mal losfährt, soll man jeden, der darin Platz nimmt, nicht noch beleidigen.