Kolumne
Bildet die Kirche noch?

Kolumne zum Verhältnis zwischen Kirche und Lehre.

Mario Andreotti
Mario Andreotti
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Im Mittelalter war die Kirche die fast alleinige Trägerin der Bildung und Kultur. (Symbolbild)

Im Mittelalter war die Kirche die fast alleinige Trägerin der Bildung und Kultur. (Symbolbild)

Keystone

Im Mittelalter war die Kirche die fast alleinige Trägerin der Bildung und Kultur. Vor allem die Klöster errichteten für ihren Nachwuchs eigene Schulen, sogenannte Klosterschulen, wie etwa in St. Gallen, Reichenau und Fulda, in denen nach antikem Lehrplan die sieben freien Künste und als Krönung des Studiums die Botschaft des Evangeliums gelehrt wurden.

Im Gefolge der Reformation kam es zu einem Aufschwung der Schulen und Universitäten, der einen deutlichen Schub in der Schul- und Bildungsgeschichte bewirkte. Martin Luther hatte schon in seiner Schrift «An den christlichen Adel deutscher Nation» 1520 die Errichtung eines all-gemeinen Schulwesens gefordert, damit jedermann imstande sei, die Bibel zu lesen. Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts blieb die Schule weitgehend eine Angelegenheit der Kirchen, gehörten Kirche und Bildung untrennbar zusammen.

Man kann Grundlagen christlicher Kultur nicht mehr voraussetzen

Gilt das Letztere heute noch? Hat die Kirche noch einen Bildungsauftrag? Bei der Beantwortung dieser Fragen wird man zunächst darauf hinweisen, dass die Kirchen immer noch eigene Volks- und Mittelschulen unterhalten und überdies in den staatlichen Schulen konfessionellen Religionsunterricht anbieten.

Allerdings ist die Zahl der kirchlichen Schulen rückläufig, verlieren die Kirchen auch in den staatlichen Schulen an Boden, weil es für sie, schon der immer dichteren Stundenpläne wegen, zunehmend schwieriger wird, ihren Religionsunterricht im Schulbetrieb zu platzieren.

Zum Kolumnisten

Mario Andreotti ist Dozent für neuere deutsche Literatur. Er studierte in Zürich Germanistik und Geschichte. Nach der Promotion 1975 war er Gymnasiallehrer. Heute ist er Lehrbeauftragter an der Universität St. Gallen und Gastdozent an der Pädagogischen Hochschule Luzern. Daneben ist er in der Lehrerfortbildung tätig und Buchautor.

Die Kirchen werden sich in Bezug auf Bildung daher neu orientieren müssen, wenn sie die heutigen Menschen erreichen und vor allem den Mitgliederschwund aufhalten wollen. Denn Bildung wird angesichts des drohenden Traditionsbruchs in unserem christlichen Westen zunehmend zur Herausforderung.

Man kann nicht mehr voraussetzen, dass Menschen die Grundlagen christlicher Kultur kennen. Die Kirchen müssen daher elementare Bildungsangebote für alle Lebensalter anbieten, aber auch Möglichkeiten zu deren Vertiefung.

Da genügen die Verkündigung im Gottesdienst, der konfessionelle Religionsunterricht, diakonische Unternehmen und die Gemeindearbeit der Kirchen nicht mehr. Da bedarf es eines weitergehenden kirchlichen Bildungsengagements, bedarf es neben Erwachsenenbildungsstätten und Akademien der vermehrten Beteiligung der Kirchen am öffentlichen bildungspolitischen Diskurs.

Was heisst das konkret? Man macht den Kirchen immer wieder den Vorwurf, sie würden sich dem Dialog mit den modernen Geistes- und Naturwissenschaften, aber auch mit der modernen Literatur zu wenig öffnen, würden den Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung mit Misstrauen begegnen. Und dies nicht ganz zu Unrecht.

Auf kirchlicher Seite war und ist häufig die Sorge im Spiel, die Substanz des Glaubens zu verlieren, wenn er der kritischen Analyse mit den empirisch gewonnenen Erfahrungen ausgesetzt wird. Die Kirchen fürchten um die Zerstörung der Fundamente christlicher Tradition, letztlich ihres biblischen Weltbildes. Der Fall Galilei ist uns noch in bester Erinnerung.

Es ist zentral, dass Kirchen ihre Bildungsverantwortung erweitern

Dabei kann der christliche Glaube seine lebensorientierende Kraft in unserer modernen Gesellschaft nur entfalten, wenn er in Bezug zu den Denkweisen in Wissenschaft und Kultur, Politik und Wirtschaft gesetzt wird. So können die Kirchen heute nicht mehr von der Welt als Schöpfung Gottes reden, ohne sich mit den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaften zur Entstehung der Welt und der Evolution des Menschen auseinanderzusetzen.

Ebenso wenig kann in der heutigen, pluralistischen Gesellschaft die Vermittlung christlicher Werte ohne Bezug auf die Werte anderer Religionen und Weltanschauungen gelingen. Daher ist es von zentraler Bedeutung, dass die Kirchen ihre Bildungsverantwortung erweitern und das Wissen unserer Zeit, aber auch moderne Kunst und Literatur in ihre Bildungseinrichtungen vermehrt miteinbeziehen.

Nur wenn der christliche Glaube nicht ein Glaube aus spiritueller Erfahrung allein, sondern ein gebildeter Glaube ist, verbessern sich die Chancen, neue Generationen an die Kirche heranzuführen.