Die Nachricht: Die «Schweiz am Sonntag» hinterfragte in verschiedenen Artikeln die angeblichen Segnungen der Personenfreizügigkeit. Arbeitsmarktspezialist George Sheldon hält die Zuwanderung indes für überwiegend vorteilhaft. Eine Replik.
Der Kommentar: In einem vor zwei Wochen in dieser Zeitung erschienenen Beitrag mit dem Titel «Die verklärte Zuwanderung» schrieb Chefredaktor Patrik Müller, dass die seit dem Inkrafttreten des Personenfreizügigkeitsabkommens im Juni 2002 erfolgte Zuwanderung unserem Land wirtschaftlich weniger gebracht habe, wenn man die Zuwanderung aus dem Blickwinkel des Pro-Kopf-Einkommens betrachte. Zwar habe das Bruttoinlandsprodukt (BIP), bestehend aus dem Wert aller in einem Jahr erbrachten Dienstleistungen und hergestellten Produkte, seit 2002 deutlich stärker zugenommen als in Deutschland. Doch umgelegt auf die Zahl der Einwohner, die hierzulande auch wegen der Zuwanderung stieg, sehe das Ergebnis bescheidener aus als bei unseren nördlichen Nachbarn. Dort sei das BIP pro Einwohner, worauf es bei der Messung des Wohlstands ja ankommt, relativ stärker gestiegen als in der Schweiz. Zudem ist die Bevölkerung dort nicht gewachsen, sondern leicht geschrumpft. Vor diesem Hintergrund bekommt man leicht den Eindruck, dass die Zuwanderung eher einen Fluch als einen Segen für die Schweiz bedeutet. Doch der Eindruck täuscht.
Zunächst ist anzumerken, dass sich die Aussagen in dem Artikel nur auf relative Veränderungen beziehen. Diese können aber ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit wiedergeben, wenn die Grössen, auf die sie sich beziehen, unterschiedlich gross sind. So kann eine relative Zunahme von 10 Prozent absolut weniger bedeuten als ein relativer Anstieg von 5 Prozent, wenn sich die erste Veränderung beispielsweise auf 50 Franken und die zweite etwa auf 200 Franken bezieht. Im ersten Fall beträgt die absolute Zunahme fünf Franken (10% von 50) und im zweiten zehn Franken (5% von 200).
Ähnlich verhält es sich bei dem Vergleich der Pro-Kopf-Einkommen der Schweiz und Deutschlands. Nach Angaben der Weltbank lag das BIP pro Einwohner in der Schweiz im Jahre 2002 um mehr
als einen Viertel über jenem Deutschlands. Aus diesem Grund nahm das Pro-Kopf-Einkommen seit 2002 in der Schweiz um knapp 17 000 Franken und in Deutschland um rund 12 000 Franken zu, obwohl es dort relativ stärker stieg. Aus dieser Optik lag der grössere Wohlstandsgewinn doch wohl in der Schweiz.
Im Artikel wird auch nicht darauf eingegangen, wie der Erfolg Deutschlands zustande kam. Das Pro-Kopf-Einkommen kann bei einer leicht schrumpfenden Bevölkerung, so wie sie in Deutschland anzutreffen ist, grundsätzlich auf verschiedene Weise steigen. Einerseits können die Beschäftigten durch technischen Fortschritt oder Bildung produktiver werden. Dies versetzt sie in die Lage, mit dem gleichen Arbeitseinsatz mehr produzieren zu können. Andererseits kann die Zahl der Erwerbstätigen zunehmen, etwa indem Hausfrauen vermehrt in den Arbeitsmarkt treten oder mehr Arbeitslose einen Job finden.
In Fall von Deutschland trifft eher Letzteres zu.
Das heisst, der starke Anstieg des Pro-Kopf-BIP dort ist nicht in erster Linie darauf zurückzuführen, dass die Arbeitsproduktivität oder die Erwerbsbeteiligung der Frauen stark zunahmen, sondern weil die Arbeitslosendquote sehr stark fiel: von fast 10 Prozent 2002 auf knapp 7 Prozent 2012. Mit einer Arbeitslosenquote von nur rund 3 Prozent bleibt der Erfolgsweg Deutschlands der Schweiz «leider» verwehrt.
Dass das Pro-Kopf-BIP hierzulande durch die Zuwanderung zunahm, steht ausser Frage. Es muss gestiegen sein, weil die Zuwanderer seit Mitte der 1990er-Jahre im Durchschnitt einen höheren Bildungsstand aufweisen als die Ansässigen. Wenn sie dadurch nicht produktiver wären, käme das der seltsamen Vorstellung gleich, dass der Bildungsstand keinen Einfluss auf den Lohn des Einzelnen habe. Zudem sind die Zuwanderer erwerbsaktiver. Dazu werden sie ja auch rekrutiert. Ferner haben sie im Durchschnitt kleinere Familien, wodurch das erzeugte BIP auf weniger Köpfe umzulegen ist.
Berechnungen an meinem Institut an der Universität Basel zeigen denn auch, dass das Pro-Kopf-BIP der Zuwanderer mehr als ein Viertel über demjenigen der Ansässigen liegt. Dass dies im gesamtschweizerischen Durchschnitt nicht stärker zu Buche schlägt, liegt alleine daran, dass die Zuwanderer einen recht kleinen Anteil der Wohnbevölkerung ausmachen.
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