Religion
Wo Gott weder ein «er» noch eine «sie» ist: Zu Besuch im ersten queeren Gottesdienst Zürichs

Mit Gottesdiensten für junge und insbesondere queere Menschen versucht sich die Reformierte Kirche Zürich neu zu erfinden. Gleichzeitig will man so dem Mitgliederschwund entgegenwirken. Ein Experiment in den Anfängen.

Sven Hoti
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Auch die Musik ist anders: Die Hausband der Mosaic Church hat viele englischsprachige Songs in ihrem Repertoire.

Auch die Musik ist anders: Die Hausband der Mosaic Church hat viele englischsprachige Songs in ihrem Repertoire.

Mathias Förster

Wer den Gottesdienst in der Mosaic Church von Pfarrerin Priscilla Schwendimann besucht, der bekommt einen etwas anderen Gottesdienst. Gott ist mal ein «er», dann eine «sie». Geschlechter spielen hier keine Rolle. Schwendimann spricht mit dem Publikum wie mit Leuten an einer Bar: direkt, informell und kollegial. Aber der Gottesdienst hat Inhalt. Sie verkündet das Evangelium auf eine herrlich erfrischende Art. Einer Art, mit der das junge Publikum wohl mehr anfangen kann als mit einem Sonntagsgottesdienst im Grossmünster.

Rund 20 Personen haben sich an diesem Freitag vor dem dritten Advent versammelt. Es sind Leute im Alter von etwa 15 bis 30 Jahren. Pfarrerin Schwendimann ist eine der ältesten. Der Gottesdienst richtet sich vor allem an queere Personen. Er ist Teil der Reformierten Kirche Zürich und findet jeden zweiten Freitagabend in der Zürcher Limmathall statt. Der Gottesdienst wurde im September lanciert, zusammen mit einer LGBTIQ+-Fachstelle fürs Kirchenpersonal.

Schwendimann ist seit knapp vier Jahren Pfarrerin der Reformierten Kirche Zürich – und queer. Homosexualität sei in der reformierten Kirche fast kein Thema mehr, sagt die 30-Jährige. «Dass ich mit einer Frau zusammen bin, danach kräht kein Hahn mehr.» Nachholbedarf sieht sie allerdings beim Thema trans. Es war diese Erkenntnis, die sie Ende 2021 dazu veranlasste, den Theologiestudenten Benjamin Hermann dazu zu holen und das Projekt Mosaic ins Leben zu rufen. Dieses besteht aus zwei separaten Teilen: der Mosaic Church und der Mosaic Fachstelle.

Ein Angebot für Mitglieder und Kirchenpersonal

Die Church beinhaltet einerseits den Gottesdienst in der Limmathall, Hauskreise mit Gesprächsrunden, Seelsorge und Tagungen zum Thema Glaube und Queers. Sie stehen allesamt in Schwendimanns Verantwortung. Einmal pro Jahr gibt es zudem einen sogenannten Namens-Segnungsgottesdienst. Trans und non-binäre Personen können dabei ihren neu gewählten Namen von der Gemeinde zugesprochen bekommen und gesegnet werden.

«Die Kirche muss diverser werden»: Pfarrerin Priscilla Schwendimann leitet seit September die Mosaic Church.

«Die Kirche muss diverser werden»: Pfarrerin Priscilla Schwendimann leitet seit September die Mosaic Church.

Mathias Förster

Andererseits gibt es die Fachstelle Mosaic unter der Leitung von Hermann. Diese ist als Anlaufstelle für Mitarbeitende der reformierten Kirche gedacht bei Fragen rund um queere Themen. Der Fokus liege auf der Geschlechtsidentität, erklärt der trans Mann. Einem Thema, das in der Kirche noch unterbearbeitet sei. Er nimmt aber auch Anfragen von anderen Organisationen und Einzelpersonen entgegen. Viele Anfragen erhalte er derzeit von Konfirmandenklassen. Dort gibt er Lektionen zu Themen, wie etwa Geschlechtervielfalt.

Es ist Aufklärungsarbeit, die der 25-Jährige verrichtet. Das Ziel sei es, dass das Kirchenpersonal im Umgang mit Mitgliedern vermehrt auf ihre Sprache achtete, damit sich auch queere Menschen im Gottesdienst willkommen fühlten. Das sei nicht immer einfach, gesteht Hermann. Gewissen Leuten mute man damit etwas zu. «Manche meinen, offen zu sein, sind es aber bei genauem Hinhören gar nicht.»

Viele Besuchende haben Anfeindungen erlebt

Doch erweist das Duo mit ihrem Angebot queeren Menschen nicht eher einen Bärendienst – nämlich, indem es sie vom Rest der Glaubensgemeinschaft abspaltet?

Nein, finden sowohl Schwendimann als auch Hermann. Zwar seien Queers heute schon mehrheitlich willkommen in der reformierten Kirche. In der Gesellschaft jedoch fehle mancherorts noch die nötige Akzeptanz. «Wir sind noch nicht dort angekommen, wo wir sein sollten. Deshalb braucht es dieses Projekt.» Es gehe darum, queere Menschen nicht nur formell zu akzeptieren, sondern deutlich willkommen zu heissen. «Unsere Hoffnung ist es, dass wir es in zehn Jahren nicht mehr brauchen.»

«Manche meinen, offen zu sein, sind es aber bei genauem Hinhören gar nicht», sagt Benjamin Hermann, Leiter der Mosaic-Fachstelle.

«Manche meinen, offen zu sein, sind es aber bei genauem Hinhören gar nicht», sagt Benjamin Hermann, Leiter der Mosaic-Fachstelle.

zvg/Lorena La Spada

Der Gottesdienst ist für die meisten Anwesenden vor allem ein sogenannter «Safer-Space», also ein Raum, in dem sie sich möglichst sicher vor Diskriminierung fühlen können. Viele von ihnen haben Anfeindungen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung erlebt, etwa in ihrer Kirchgemeinde, ihren Familien oder aus ihrem Freundeskreis. Hier können sie sich offen und uneingeschränkt mit Personen austauschen, die Ähnliches erlebt haben.

Eine Besucherin erzählt etwa, wie sie einst Mitglied in einer Freikirche gewesen sei. Als die Kirchenleitung erfuhr, dass sie mit einer Frau zusammen war, sei sie «herausgeekelt» worden. Den Namen der Kirche möchte sie nicht genannt haben. Bei der Mosaic Church fühle sie sich nun willkommen. Andere Besuchende erzählen, wie sich ihre Eltern nach ihrem Bekenntnis als trans Person von ihnen distanziert hätten.

Eine Lösung für den Mitgliederschwund?

Seinen Anfang nahm das Projekt mit dem Onlineformat Holy Shit, das Schwendimann 2020 zusammen mit einer Pfarrei-Kollegin auf Youtube startete. In kurzen bis mittellangen Erklär- und Interviewbeiträgen sprechen die beiden vorwiegend über queere und Glaubensthemen sowie über mentale Gesundheit, das Ganze ist modern und humorvoll gehalten. «Wir wollten während der Pandemie dorthin, wo die jungen Menschen sind – online», erklärt Schwendimann.

Das Format habe ziemlich «eingeschlagen». Auf Anraten einer Kirchenpflegerin reichte die Pfarrerin eine Anfrage bei der Kirche für ein Sonderpfarramt ein. Die reformierte Kirche gewährte ihr dieses 2021 und Schwendimann wurde zur ersten LGBT-Pfarrerin Zürichs. Aus dieser Stellung heraus und ermuntert durch die Empfehlung anderer entstand Ende 2021 das Projekt Mosaic. Mit dem neuen Namen solle auch signalisiert werden, dass nicht nur queere Personen, sondern alle willkommen seien.

Und alle Leute braucht die Kirche, wenn sie dem anhaltenden Mitgliederschwund begegnen möchte. Gemäss einer Studie des Beratungs- und Forschungsbüros Ecoplan werden sich die Mitgliederzahlen etwa der reformierten Landeskirche bis 2045 gegenüber 2010 halbieren. Es stellt sich insbesondere die Frage, wie die Kirchen neue, jüngere Mitglieder dazugewinnen kann.

Schwendimann möchte mit ihrem Projekt auch hinsichtlich dieser Problematik etwas bewegen. «Ich verstehe mich als Pfarrerin für junge Leute, von denen ein grosser Teil queer ist.» Nicht ohne Grund findet der Gottesdienst jeweils an Freitagen statt. «Vergiss Sonntagmorgen, das ist für junge Menschen der ungünstigste Zeitpunkt», sagt Schwendimann. Die Jungen heute würden samstagabends in den Ausgang gehen und den Sonntag fürs Auskatern brauchen.

Schwendimann appelliert: Die Kirche müsse diverser werden. «Wir können unseren Gottesdienst nicht immer gleich machen.» Es gehe dabei nicht darum, den Inhalt zu ändern, sondern lediglich die Art und Weise, wie er vermittelt wird. «Ich bin überzeugt, dass Gott alle Menschen liebt. Dann habe ich auch den Auftrag, zu allen Menschen zu gehen. Es wäre absurd, dies nicht zu tun.»