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Region (LiZ)
Limmattal
Da gerät man leicht ins Schwärmen: die restaurierten Gebäude, die alten Brunnen, die Ruhe am Dorfplatz. Was aber noch mehr beeindruckt, ist der Charme der Bewohner von Oetwil.
Raus aus der Redaktion und rein in die Gummistiefel: Stallvisite bei Bauer Rudolf Lienberger. Mein Navigationsgerät lässt mich im Stich, es zeigt mir kein «Im Wiesentäli» an. Glücklicherweise treffe ich auf eine Fussgängerin, die dasselbe Ziel hat. Ich biete ihr kurzerhand die Mitfahrt an, die erst ganz kurz vor dem Waldrand endet. Wie sich herausstellt, wohnt Jasmine mit ihrem Vater Mike Felder auf dem abgeschieden liegenden Lienberger-Hof. Den Vater treffe ich kurz darauf im Stall. Jeden Morgen und Abend geht er dort zur Hand, ein Hobby, wie Felder sagt, der in Zürich eine Kung-Fu-Schule betreibt und im Dorf aufgewachsen ist.
Ruedi Lienberger hat erst Zeit für mich, als die Stallarbeit getan ist. Er hat nicht nur eine Schlafstatt, sondern auch noch ein Abendessen für mich. Bei Trockenfleisch, Käse und Bier erzählt er mir von seiner Arbeit und dem Hof, den er 1983 gebaut hat. 25 Jahre lang ist er jeden Winter noch ins Holz gegangen, und auch jetzt gehört die Waldarbeit zu seinen Aufgaben – fünf Hektar seines Landes sind Wald. Viel Gesellschaft hat er hier oben nicht, weit und breit ist kein Nachbargebäude in Sicht. Seine Partnerin Annalies Waldvogel arbeitet in Glarus und kann oft nur am Wochenende kommen. Auch wenn ihn die Einsamkeit nicht drückt, scheint ihm das Gespräch mit dem Gast Freude zu bereiten. Er verzichtet für diesen Abend auf seine übliche Feierabend-Beschäftigung – das «Fernsehschlafen».
- Am Altberghang findet sich im Hüttikerwald ein mächtiger Monolith mit Namen Chindlistein. Eine der Eiszeiten hat ihn aus dem Glarnerland ins Limmattal transportiert.
- Das auffällige Wappen mit dem sechszackigen gelben Stern auf rotem Grund stammt aus der Zeit, als Unteroetwil zum Kloster Wettingen gehörte. Das Kloster hat auch einen Stern im Wappen.
- Oetwil hatte 2015 im Bezirk Dietikon die niedrigste Scheidungsrate aller Gemeinden: 1,3 (Anzahl Scheidungen pro 1000 Einwohner), Unterengstringen die höchste mit 3,6, dicht gefolgt von Weiningen mit 3,4.
- Der Oetwiler Gemeindepräsident Paul Studer ist ein leidenschaftlicher Sammler; unter anderem besitzt er viele Kakteen. Sehr ungewöhnlich, ja einzigartig ist seine Sammlung historischer Schweizer Banknoten.
- Mit 39 Prozent nimmt der Wald den flächenmässig grössten Anteil des Gemeindegebiets ein, 37 Prozent werden landwirtschaftlich genutzt und nur 16 Prozent sind bewohnt.
- Der Weiher, der am nördlichen Ortsausgang Richtung Wiesentäli liegt, trägt den Namen Präsi- Weiher. Eine Initiative des früheren Gemeinde-«präsi» Albert Frei.
Vom waldreichen Rückzugs- und Erholungsraum der Oetwiler mache ich mich am nächsten Tag auf zum alten Dorfkern. Znüni im Restaurant Freihof. Michaela und Albert Kappeler führen es als Speiselokal im kleinen Familienbetrieb. Gegenüber schliesst Gerda Wolfensberger gerade die Tür ihrer «Hair Lounge» auf. Ideal gelegen mit Blick auf den Dorfplatz und prächtigem Rosenbeet vor den Fenstern macht der Salon auf den ersten Blick den Eindruck eines edlen kleinen Cafés. Ich geselle mich zur Inhaberin und ihrer Mitarbeiterin Nadine Kuster, die gerade auf der Terrasse vor der Salontür eine Tasse Kaffee trinken. «Meine Kundinnen sitzen hier auch sehr gerne und überbrücken die Wartezeit bei einem Cüpli mit Blick auf die Dorfidylle», so Wolfensberger. Die gebürtige Österreicherin führt seit elf Jahren das Geschäft. Gerade läuft Armida Frei mit einer grossen Giesskanne über den Platz. Gerda Wolfensberger begrüsst sie mit warmen Worten: «Was täten wir nur ohne dich!» Armida Frei, die sich um die vielen Blumen rund um den Dorfplatz kümmert, winkt bescheiden ab und dreht weiter ihre Runde.
Mitten auf dem Platz herrschte schon seit dem frühen Morgen Betriebsamkeit. Jetzt aber ist auch hier Znüni-Zeit. Jürg Vogt rastet auf einer Bank im Schatten und löffelt einen Becher Café-Glace. Wie jedes Jahr macht er sich nützlich beim Zeltaufbau für den Fiirabig-Jazz, einem der wichtigsten jährlichen Kultur-Anlässe im Dorf. Der Pensionär packt immer zu, wenn es in der Gemeinde etwas zu tun gibt. Was schätzt er an Oetwil? Vogt weist auf die gegenüberliegenden historischen Gebäude mit dem Spycher aus dem Jahr 1590. «Wo finden Sie in der Region noch so einen Dorfkern?»
Am Chräbsenbach bin ich zu einem Spaziergang mit einem der prominentesten Oetwiler verabredet. Jakob Alt ist ein Mann mit vielen Interessen. Der Bio-Bauer, Künstler, Naturschützer, Poet, Sozialarbeiter, Galerist und Gesellschaftskritiker polarisiert – auch in seiner Gemeinde. Der 72-jährige, der als Dreijähriger nach Oetwil kam, ist Landbesitzer und Pächter «mit einem Herz für Landlose», wie er sagt. «Wurzeln zu haben, ist für Menschen wichtig. Dafür brauchen sie Boden.» Für ihn ist das der Antrieb, dem Boden Sorge zu tragen.
Die Ellenbogen-Mentalität unserer Zeit verabscheut er, genauso wie den in seinen Augen «untauglichen» Kapitalismus. Jakob Alt – ein Rebell? Die Antwort kommt schnell: «Ja, das kann man schon so sagen.» Er habe auch aggressivere Phasen gehabt, aber einen Kampf auf Biegen und Brechen wollte er nie. Auch deswegen habe er sich auf die Poesie verlegt, die auf «für alle angenehmere Weise» Kritisches transportieren könne. Ganz ohne Kampf geht es bei ihm dennoch nicht. Als Mitglied der Bauerngewerkschaft Uniterre setzt er sich für die Initiative für Ernährungssouveränität ein, die den Freihandel mit Lebensmitteln beenden möchte. «Dass wir die 100 000 Unterschriften erreichen würden, hätte ich zu Beginn nicht gedacht, denn die Initiative hat starke Gegner wie die Economiesuisse und den Bauernverband», so Alt.
Zurück auf dem Dorfplatz wartet Paul Studer am Brunnen auf mich. Er ist seit 18 Jahren Präsident der 2300 Einwohner umfassenden Gemeinde. Oetwil sei eine flächenmässig kleine Gemeinde. Keine andere im Limmattal habe so wenig Bauland. «Wir arbeiten an der Zonenplanung, damit wir unsere Entwicklung in Schwung halten können, sonst besteht die Gefahr, dass wir zu einem Alterswohnheim werden.» Ohne Dynamik in der Dorfentwicklung gebe es keine Zukunft. Daher blickt er mit Sorge auf die Kulturlandinitiative, die am 27. November zur Abstimmung steht und bei Annahme durch das Stimmvolk der Baulandausweisung eines 3,5 Hektar grossen Areals direkt an der Limmat eine grosse Hürde in den Weg stellen würde. «Wenn wir darauf langfristig verzichten müssten, wäre das keine glückliche Situation für uns», so Studer.
Mehr als glücklich kann Studer mit den Gemeindefinanzen sein. «Gegen Ende Jahr werden wir keine Schulden mehr haben, die Gemeinde ist dann finanziell unabhängig. Solch eine komfortable Situation hat es in der Oetwiler Vergangenheit seit 1900 noch nie gegeben.» Eine Leistung, die in erster Linie der Stimmbürger erbracht habe.
Im Hofladen des Schmitterhofs möchte ich mir noch Obst für den nächsten Tag besorgen. Der Laden war die Idee von Marlen Bühler, der Frau von Jungbauer Benjamin Bühler, der den grossen Hof mit 120 Stück Milchvieh zusammen mit Vater Walter Bühler führt. Die gelernte Floristin hat immer schon von einem eigenen Laden geträumt, und ihr Mann hat sie bei der Verwirklichung unterstützt. Nicht nur Milch, Kartoffeln, Beeren, Zwetschgen und Eier kann man dort kaufen, auch Blumen und kleine Geschenksets bis hin zu Lebensmittelkörben, die Marlen Bühler selbst gestaltet, gehören zum Sortiment. Praktisch für die Kunden: Der Laden funktioniert komplett in Selbstbedienung.
Beim Rundgang über den Hof spüre ich Anspannung bei den Bühlers. Kuh Fee ist am Kalben, und sie tut sich schwer. Die Bühlers stehen Fee tatkräftig zur Seite. Als der kleine schwarze Stier mit dem weissen Stern auf der Stirn endlich auf dem Stallboden angelangt ist, entspannt sich die Situation. «Jede Geburt ist mit einem Risiko verbunden», so Walter Bühler. «Wir sind immer dankbar, wenn es gut gegangen ist.»
Ich löse mich von der Mutter-Kind-Idylle und freue mich auf eine kühle Schorle auf der Terrasse des Restaurants Werd bei den Sportanlagen des FC Oetwil-Geroldswil. Auf den Plätzen trainieren überwiegend jugendliche Teams. Zurufe der Trainer und Spieler hallen herüber. 127 Oetwiler, davon 95 Junioren, betreiben dort ihren Sport. Der Geroldswiler Beat Lutz und der Oetwiler Jeami Broggi setzen sich zu mir. Lutz ist der Leiter der etwa 35 Junioren-Trainer und betreut selbst ein 14-köpfiges Team von F-Junioren. Broggi trainiert seit dem Sommer die 1. Mannschaft, die in der 3. Liga spielt, davor war er acht Jahre lang Juniorentrainer. 6 der 22 Spieler in seinem Team stammen aus Oetwil. Lutz: «Der Boom beim Fussballspielen ist ungebremst.» Manchmal könne der Club die Nachfrage gar nicht mehr abdecken.
Zum Ausklang ein Spaziergang zum Binzerliweiher und zur Limmat und den Tag beim Sonnenuntergang Revue passieren lassen – ein Tag voller sympathischer Begegnungen.
Er ist einem Notruf gefolgt. Und wenn Hans Schweizer um Hilfe gebeten wird, fackelt er nicht lange. Der Jazz-Club Oetwil, die tragende kulturelle Säule des Ortes, stand vor dem Ende. Nach 30 Jahren und dem Rücktritt von Mäni Pfister, des Club-Gründers und langjährigen Präsidenten, gab es zunächst keinen Nachfolger. Die Auflösung des 180 Mitglieder starken Vereins stand im Raum. Nun amtet der Pensionär Hans Schweizer, der früher bei der Fachstelle für Kultur in Zürich und beim Konservatorium und Musikhochschule Zürich gearbeitet hat, seit einem Jahr als neuer Präsident des Clubs. Der Stadt-Zürcher geht nicht zimperlich mit seinen Mitgliedern um. «Der Verein ist überaltert, der Altersdurchschnitt beträgt 70 Jahre.»
Nicht immer nur Dixieland
Auch er selbst ist in diesem Jahr 70 Jahre alt geworden. Das hindert ihn nicht, Sätze zu sagen wie diesen: «So lange ich Präsident bin, wird – wenn immer möglich – keiner auf der Bühne stehen, der älter ist als 70 Jahre.» Und schiebt hinterher: «Wir brauchen junge Leute, die vielleicht irgendwann den Verein übernehmen und ihn in eine neue Richtung führen wollen.» Aber er gibt zu, dass das keine leicht zu lösende Aufgabe ist. Derzeit sei das Publikum sehr konservativ, am liebsten wolle es immer Dixie hören. Er selbst sieht das anders: «Die wahren Jazz-Kenner geniessen auch den modernen, experimentellen Jazz.» Beim Fiirabig-Jazz am letzten Freitag jedenfalls waren mit Soul und Blues modernere Töne zu hören. Immerhin sei der Verein finanziell gesund. Man finanziere die drei grossen Oetwiler Kulturanlässe im Jahr – ausser dem Fiirabig-Jazz noch den Jazz-Brunch im März und die Dixieland-Metzgete im Oktober – durch Beiträge, Spenden, Gemeindeförderung und neu einem Zustupf von 4000 Franken von der Zürcher Fachstelle für Kultur, seinem früheren Arbeitgeber.