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Söll emol cho, dä Grüenfink!
Es ist 20.08 Uhr am Freitag, 2. September 2022 im Thurbo von Steckborn nach Altnau. Auf dem Monitor eines Mobiles sind im Live-Stream der Webcam in körnigen Grautönen zwei junge Schleiereulen in ihrem Kasten zu erkennen: Sie sind wach, scheinen aber noch unentschlossen, wann genau sie in die Dunkelheit zur Jagd auf Kleinsäuger aufbrechen wollen. Das Team ‘Unterseeschwalben’ aus Steckborn macht sich Hoffnungen, dass es um 21.00 Uhr, wenn der BirdRace beginnt, die Schleiereule als erste gesichtete Vogelart aufschreiben kann. Um 20.23 Uhr, kurz vor der Ankunft in Altnau, sind die Schleiereulen immer noch im Kasten, sitzen jedoch bereits direkt vor dem Ausflugloch. Der Puls geht höher – schafft das Team es rechtzeitig? Halten die Schleiereulen die stille Verabredung auf 21.00 Uhr ein? Es folgt eine ca. 20 Min. dauernde Velotour hinauf zum Hof der Familie Sauter. Dort angekommen ist es bereits stockdunkel, aus der Nacht taucht ein mässig knurrender Hofhund auf, dahinter die freundliche Bäuerin. Wo sind die Schleiereulen? Kurz vor 21.00 Uhr ein letzter Check im Livestream: die Eulen sind weg.
Eine Minute später hat das BirdRace 2022 begonnen, das Team bald einen Waldkauz gehört und anstelle der Schleiereule als erste Art auf die Liste gesetzt. 84 Teams sind in der ganzen Schweiz am Start, so viele wie noch nie, denn BirdLife Schweiz feiert den 100. Geburtstag. Beim BirdRace geht es nicht nur um Ruhm und Ehre, sondern auch um das Einsammeln von Spenden, in diesem Jubiläumsjahr sogar gezielt für die jeweiligen regionalen Projekte («100 Naturjuwelen»). Der NVS Steckborn hat ein Gebäudebrüterprojekt angemeldet: es geht um die Förderung von Mehlschwalben, denen z. B. das Material fehlt, um selbst Nester zu bauen – oder kennen Sie eine dauerfeuchte Lehmpfütze in Ihrer nächsten Umgebung? Vermutlich nicht, denn der Boden ist weiträumig zugepflastert oder allzu gut aufgeräumt, zudem ist es heuer so trocken wie seit ewig nicht mehr. Es gibt Zusagen einiger SponsorInnen zwischen Fr. 1.– und 5.– pro gemeldete Art und daher ist der Ehrgeiz des Teams geweckt, möglichst viele Vogelarten innert 24 Stunden zu entdecken, um die Bedürfnisse der Mehlschwalben finanzieren zu können.
Die Regeln sind einfach, aber hart: der BirdRace dauert exakt 24 Stunden und jede Vogelart muss von mind. 3 (von max. 4) Teammitgliedern gehört oder gesehen und eindeutig bestimmt worden sein. Es gelten mit wenigen Ausnahmen (Rheindelta, Bodensee) nur Arten, die auf Schweizer Staatsgebiet angetroffen werden. Fortbewegen darf man sich nur per Fuss, Velo oder ÖV.as gilt auch für An- und Wegfahrt. Nein, keine E-Bikes. Die Unterseeschwalben (Boomer 50+) kämpfen sich auch am Samstag wieder tapfer mit Muskelkraft manchen Hang hinauf, nachdem sie um 6.01 Uhr den Zug nach Stammheim genommen haben und sich mittlerweile im schönen Seebachtal bewegen.
Das Einhalten der Regeln ist Ehrensache. Insofern ist der BirdRace wie aus der Zeit gefallen: es zählt die Integrität der Beteiligten. Manche Art kann nicht aufgeschrieben werden, weil sie nur von zweien identifiziert oder zur falschen Zeit gesichtet wurde oder die Bestimmung zu unsicher ist. Grosses Birder-Ehrenwort, das haben auch die Jugendteams längst verinnerlicht, von denen neun am Start sind.
Am Nachmittag in der Frauenfelder Allmend fällt den ‘Unterseeschwalben’ auf, dass sie zwar bereits zwei Fischadler, zwei Wespenbussarde und vier verschiedene Spechtarten gesehen haben, dass ihnen aber noch einige Allerweltsarten fehlen, u.a. der Grünfink. Sie haben ihn seit dem Frühling fast täglich gehört oder gesehen, also: söll emol cho, dä Grüenfink! Doch alles Beschwören nützte nichts, dafür kamen nach der Tour über Siedlungs- und Kulturland (schöne 54 Arten) später am Bodensee in Steinach, Arbon und Triboltingen dann noch weitere hübsche 23 Arten in knapp drei Stunden zusammen.
Ziemlich K.O., aber glücklich kommen Nina Moser, Jakob Rohrer, Maya Willi und Carola Reetz in Steckborn wieder an. Mit 77 Arten liegen sie auf dem 67. Platz national und dem 15. Platz in der Ostschweiz. Das Siegerteam hat als neuen Landesrekord 148 Arten auf der Liste, das beste Jugendteam sensationelle 123 Arten – das wird dann richtig teuer für deren Sponsoren! Vergleichbar sind alle diese Zahlen letztlich nicht, denn jedes Team hat eine andere Route gewählt, weist unterschiedliche ornithologische Kenntnisse auf und hatte mehr oder weniger Glück mit Zufallsbegegnungen. Den Unterseeschwalben war wichtig, dass sie auch den kleineren Naturjuwelen des Kantons TG einen Besuch abstatten, z.B. dem Ägelsee direkt an der Autobahn, wo ein Kiebitz auf sie wartete, den es später am Bodensee nicht mehr zu sichten gab, was also gerade diesen Umweg wert war. Aber ausgerechnet der Grünfink, der war an diesem Tag irgendwie nirgendwo...
Der NVS Steckborn dankt herzlichst allen SponsorInnen und informiert auf seiner Webseite über seine laufenden Projekte: https://nvsteckborn.birdlife.ch