Selbst die Schalen werden zum Gedicht: Wieso so viele Spitzenköche plötzlich auf Kartoffeln setzen

Trendige Knolle
Selbst die Schalen werden zum Gedicht: Wieso so viele Spitzenköche plötzlich auf Kartoffeln setzen

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Lange galt die Kartoffel als langweilige Beilage. Nun erobert sie die Spitzenküche ­– immer öfter auch als Hauptdarstellerin auf dem Teller.

Silvia Schaub
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«Man muss sich schon etwas Zeit nehmen für die Zubereitung, aber es lohnt sich. Für mich ist das der perfekte Soulfood», sagt Michael Dober vom Restaurant Rosa Pulver in Winterthur. Wenn der Küchenchef Pont-Neuf-Kartoffeln zubereitet, kocht er zuerst Thymian, Rosmarin, Knoblauch und Lorbeer im Salzwasser auf und gibt dann die in Rechtecke geschnittenen Kartoffeln dazu. Sobald weich gekocht, lässt er sie auf einem Gitter ausdampfen. Über Nacht kommen sie in den Kühlschrank. Am nächsten Tag frittiert der Flawiler die Kartoffeln hellbraun. Erst wenn sie danach noch zweimal frittiert werden, seien sie vorzüglich (siehe Rezept), verrät der mit 14 «Gault Millau»-Punkten ausgezeichnete Koch.

Rezept 1

Pont-Neuf-Kartoffel mit Crème fraîche und Wildkräutern
Michael Dober

Pont-Neuf-Kartoffel mit Crème fraîche und Wildkräutern

Von Michael Dober, «Rosa Pulver», Winterthur

Zutaten für 4 Personen:
4 Stück grosse, weichkochende Kartoffeln,
150 g Crème fraîche,
etwas Thymian,
Rosmarin,
Knoblauch,
Lorbeer,
gepickelte Zwiebeln,
Salz,
Sonnenblumen- oder Rapsöl zum Frittieren,
Wildkräuter (auf dem Bild: Vogelmiere, Brunnenkresse, Pimpernelle, Schafgarbe, Spitz­wegerich)

Zubereitung:
Kartoffeln schälen und rechteckig zuschneiden. Thymian, Rosmarin, Knoblauch und Lorbeer im Salzwasser aufkochen und die Kartoffelrechtecke dazu­geben. Die Kartoffeln weichkochen und auf einem Gitter ausdampfen lassen. Über Nacht offen in den Kühlschrank stellen.

Am nächsten Tag Öl auf 150 Grad erwärmen und die Kartoffeln hellbraun frittieren und nochmals für ca. 4 Stunden offen in den Kühlschrank stellen. Öl auf 170 Grad erwärmen und nochmals ca. 1–2 Minuten frittieren.

Danach das Öl auf 180 Grad ­erwärmen und die Kartoffeln leicht dunkelbraun frittieren, auf einem Küchenpapier abfetten und salzen. Mit Crème fraîche, gepickelten Zwiebeln und Wildkräutern ­garnieren.

Dober hält fest: Kartoffeln seien so stark mit Emotionen verbunden, jeder hätte einen Zugang zu ihnen und oft auch Kindheitserinnerungen. Stimmt. Und doch: Meist kommen Kartoffeln in Form von Rösti, Stock oder Gratin auf den Teller. Dass die unscheinbare Knolle aber noch für ganz andere Gerichte verwendbar ist, zeigt nicht nur Manuela Rüther in ihrem Kochbuch «Kartoffelküche». Junge Spitzenköche wie eben Dober reizen den Härdöpfel voll aus und bringen ihn in vielfältiger Art und Weise auf den Teller. Nicht als beliebige Sättigungsbeilage. Nein, sie bekommt immer öfter die Hauptrolle. Mit gutem Grund, findet Dober:

«Sie ist so ungemein vielseitig und kann in den verschiedensten Konsistenzen zubereitet werden.»

Das schätzt auch Timo Fritsche vom Restaurant Oz, dem vegetarischen Restaurant von Andreas Caminada in Fürstenau. Er hat aktuell ein Dreierlei von der Kartoffel auf dem Menü stehen. Dazu gart er Blaue-St.-Galler-Kartoffeln im Wasserbad, lässt dann das Salzwasser so weit einkochen, dass eine Salzkruste entsteht, gibt die Kartoffeln wieder dazu und wendet sie darin. Dann konfiert er Heiderot-Kartoffeln, gibt Thymian, Knoblauch und Gewürz-öl dazu und ummantelt sie mit einer Saté-Sauce mit Sesam. Die dritte Komponente sind geräucherte Granola-Kartoffeln, die von Zwiebeln begleitet auf dem Tischgrill geröstet werden. «So bekommt man gleichzeitig eine salzige, eine süssliche und eine rauchige Komponente auf einem Teller», so Fritsche.

Der Kreativprozess ist bei der Kartoffel nie zu Ende

Ausgereizt sei die Kartoffel noch lange nicht, meint Fritsche, der mit einem Michelin-Stern und 16 «Gault Millau»-Punkten ausgezeichnet ist. Deshalb glaubt er, dass sie «stark» zurückkomme. Auch wenn man sie verstanden und schon alles gemacht habe, sei der Kreativprozess nie zu Ende. «Das ist auch das Spannende an der Kartoffel. Auf den richtigen Punkt gegart erzeugt sie ein äusserst angenehmes Kaugefühl.»

Die ursprünglich aus Südamerika stammende Knolle ist keineswegs ein Dickmacher, wie oft behauptet wird. Weder Gemüse noch Obst, sondern eine sogenannte landwirtschaftliche Kultur, enthält sie praktisch kein Fett, dafür aber eine Menge Stärke, Ballaststoffe, Eiweiss, Vitamine – vor allem B- und C-Vitamine – und Mineralstoffe. Insbesondere das «Gute-Laune-Vitamin», das Vitamin B1, spielt eine wichtige Rolle fürs Nervensystem, den Energiestoffwechsel und die Herzgesundheit. Eigentlich erstaunlich, dass in der Schweiz pro Jahr nur rund 45 Kilogramm pro Kopf konsumiert werden (Spitzenreiter ist Lettland mit über 100 Kilo pro Kopf).

Auf die Sorte kommt es an – etwa beim Püree

Der Zürcher Foodscout Richard Kägi bezeichnet seine Beziehung zur Kartoffel als sehr intensiv. Deshalb ist bei ihm die Kartoffel immer der Hauptdarsteller – egal ob ganz, geraffelt, gestampft, grilliert, gebraten oder frittiert. «Weil sie es verdienen, als eigenständige Gerichte auf den Teller zu kommen.» Kartoffeln kosten fast nichts, seien immer erhältlich, ungekühlt haltbar, machen satt und seien gesund, schwärmt Kägi.

Die Qualität sei sehr wichtig. Auch wenn sich die Sortenvielfalt über die letzten Jahre ausgedünnt habe, so gebe es doch engagierte Menschen, die Spezialitäten anbauen, auf die er jedes Jahr ungeduldig warte. Wie etwa die Bergkartoffeln aus dem Albulatal. Aber auch die Noirmoutier aus der Bretagne schätzt er oder die La Ratte mit ihrem tiefgelben Fleisch, die schon der französische Spitzenkoch Joël Robuchon als die einzig richtige Sorte für sein legendäres Püree verwendete. Die richtige Knolle und das Können des Kochs also verwandeln das Aschenbrödel-Grundnahrungsmittel in eine Prinzessin.

Rezept 2

Pancetta-Gruyère-Kartoffel-Tarte
Lukas Lienhardt

Pancetta-Gruyère-Kartoffel-Tarte

Von Richard Kägi, Foodscout

Zutaten für eine ofenfeste Form von ca. 22 cm Durchmesser (für etwa 4 Personen):
1 kg mehligkochende Kartoffeln (z. B. Désirée),
50 g geklärte Butter (Bratbutter oder Ghee),
300 g Pancetta, in dünnen Scheiben,
350 g Gruyère-Käse, gerieben,
schwarzer Pfeffer aus der Mühle

Zubereitung:
Den Backofen auf 200 Grad vorheizen. Die Kartoffeln schälen, in 3 mm dicke Scheiben schneiden und auf Küchenpapier trocknen. Die Form mit etwas von der geschmolzenen Butter auspinseln, dann mit den Pancettascheiben spiralförmig und leicht überlappend auskleiden, mit mindestens 3 cm Überhang am Rand der Form. Für den Abschluss einige Scheiben aufsparen.

Die Kartoffelscheiben über dem Pancetta einschichten, bis zu einem Drittel der Formhöhe. Ein Drittel des geriebenen Gruyères darüberstreuen und mit schwarzem Pfeffer bestreuen. Zweimal wiederholen, mit einer Schicht Kartoffeln abschliessen. Mit der restlichen geschmolzenen Butter übergiessen, die überhängenden Pancettascheiben darüber falten und mit den restlichen Scheiben gut zudecken. Auf dem Herd bei hoher Hitze den Garprozess starten.

Wenn der Pancetta am Rand der Form zu bräteln beginnt, die Form in den vorgeheizten Ofen schieben und 30 Minuten backen. Auf 180 Grad zurückschalten und weitere 30–40 Minuten backen, bis die Kartoffeln weich gegart sind. Aus dem Ofen nehmen, 15 Minuten stehen lassen und vorsichtig auf einen grossen Teller stürzen.

Rezept aus: Kägi kocht, AT-Verlag

Timo Fritsche, in Norddeutschland aufgewachsen, ist mit dem Stärkeprodukt kulturell tief verwurzelt. «In der Schweiz sind die Böden schwieriger für Kartoffeln.» Deshalb verwendete er bisher meist die Bergkartoffeln von Biobauer Marcel Heinrich aus dem Albulatal. Doch weil das «Oz» möglichst alle Zutaten aus dem eigenen Garten beziehen will, werden künftig auch Kartoffeln angebaut. Ein erster Versuch mit Blauen St. Gallern im letzten Jahr war erfolgreich. «Nun werden wir den Eigenanbau weiter ausbauen.»

Zurück zu den Pont-Neuf-Kartoffeln von Michael Dober. Um keinen Foodwaste zu produzieren, verwertet er auch die Abschnitte und die Schale – ganz nach dem Leaf-to-Root-Prinzip. Erstere fermentiert er, sodass sie einen leicht käsigen Geschmack bekommen, und verwendet sie zum Aromatisieren von Espumas, Pürees, Mayonnaisen oder Saucen. Von den Schalen bereitet der Küchenchef vom «Rosa Pulver» einen Fond her oder röstet sie im Ofen. «Es ist verblüffend, wie viel Geschmack die Schalen hervorbringen.» Ein Hoch auf die Vielfalt der Kartoffel!