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Leben
Im Glacier Express tuckern vor allem Touristen durch die Alpen. Aber er hat auch für Schweizer seinen Reiz: Wer mitfährt, knüpft Bekanntschaften und erfährt zwischen den verschneiten Bergen einiges über Asien.
Die Temperaturen liegen an diesem Donnerstagmorgen unter null, die wenigen Passagiere, die sich im Bahnhof Chur auf Gleis sieben versammelt haben, wirken eingefroren. Erst als der Glacier Express einfährt, setzen sie sich in Bewegung und eilen zu den Zugtüren. Eine chinesische Reisegruppe pressiert besonders – die Teilnehmer scheinen nicht zu wissen, dass alle Plätze reserviert sind und an den strengen Kontrolleuren niemand schnell vorbeikommt: Nur wer eine Buchung vorzeigen kann, wird eingelassen.
Der Glacier Express füllt sich rasch. Ins gegenüberliegende Abteil setzt sich ein junges, asiatisch aussehendes Paar, das von einer Seniorin begleitet wird. Immer wieder lächeln die beiden Verliebten freundlich rüber. Ich frage, woher sie kommen. Sathish erklärt, dass er mit seiner Freundin Sangetha und seiner Mutter Suseela aus Malaysia angereist sei. Die Familie ist zum ersten Mal in der Schweiz und kennt das Alpenland nur von Fotos auf Instagram. Sangetha hat auf dem sozialen Netzwerk ein Bild vom Matterhorn entdeckt und wollte den mythischen Berg mit eigenen Augen sehen.
Seit drei Tagen ist die Familie nun in der Schweiz und hat schon Zürich und Luzern besucht. Jetzt reist sie weiter nach Zermatt, wo Sathish Skistunden nehmen will. Und das, obwohl der junge Malaysier vor dieser Reise noch nie Schnee berührt hat. In seiner Heimat, erzählt er, sei es immer 30 Grad heiss und man sähe auch in den Bergen keine weissen Flocken.
Umso mehr sind er und die anderen Touristen von der bergigen Landschaft beeindruckt. Und selbst ich als erfahrener Berggänger muss zugeben: Die Aussicht aus dem Zug ist überwältigend. Meterhohe Schneemassen, höllentiefe Schluchten und mit Puderzucker bedeckte Tannen säumen die Fahrt. Die hier noch dünnen Rheinadern, denen wir begegnen, leuchten in einem unvergleichbaren Türkis. Das Beste an der Reise mit dem Express ist aber, dass man die Landschaft sieht, ohne zu frieren. Der Zug besteht mehr aus Glas als aus verschalten Wänden; der Passagier vergisst beinahe, dass er in einem abgeschlossenen Raum sitzt.
Schon seit 1930 verbindet diese Alpenbahn die Nobelorte St. Moritz und Zermatt. In etwa acht Stunden fährt der Traditionszug über unglaubliche 291 Brücken und durchquert 91 Tunnels. Ausflüge mit dem Glacier Express sind gegenwärtig so beliebt wie noch nie: Seit Anfang 2017 verzeichnen die Betreiber ein Gästeplus von 25 Prozent. Und das, obwohl ein Zweite-Klasse-Ticket stolze 152 Franken kostet und ein Fensterplatz schon Wochen vor der Reise reserviert werden muss.
Sangetha und Sathish springen auf, als wir am Sedruner Skigebiet vorbeifahren. Es ist Selfie-Zeit, mit etwas Glück lässt sich ein Skifahrer im Bildhintergrund einfangen. Zur Freude der Passagiere hält der Zug am Bahnhof und es kann ausgiebig fotografiert werden. Reisende aus dem ganzen Zug richten ihre Fotoapparate auf die Wintersportler, die sich fühlen müssen wie Roger Federer nach einem Wimbledon-Sieg. Als der Zug weiterfährt, wird es Zeit fürs Mittagessen. Das Bordpersonal hat in den vorderen Reihen schon angefangen, die Bestellungen aufzunehmen, und auch ich nehme die Speisekarte zur Hand. Und ich habe Glück: Die Gerichte sind neben Englisch und Chinesisch auch auf Deutsch angeschrieben.
Serviert wird im Alpen-Express eine Überraschung: ein leerer, blitzblanker Teller. Erst nach einigen Minuten kommen drei Bordangestellte mit grossen Schüsseln vorbei und schöpfen den heissen Schmaus direkt auf die Teller. Es gibt Schweinsgeschnetzeltes an Champignonrahmsauce mit Zartweizen und saisonalem Gemüse. Ohne Salat und Dessert kostet der Gang dreissig Franken. Der Preis geht in Ordnung, wenn man bedenkt, dass bei diesem Essen nicht nur der Magen satt wird. Das Auge isst hier mit. Der Ausblick auf die Berge hinter dem Teller ist derart unwiderstehlich, dass das Sehorgan nach dieser Reise eine Diät machen muss.
Highlights: St. Moritz, Albulalinie mit Solis- und Landwasserviadukt und Kehrtunnel. Rheinschlucht, der «Grand Canyon der Schweiz». Oberalppass. Zermatt.
Reiseinfos: Die Reise mit dem Glacier Express von St. Moritz nach Zermatt kostet 152 Franken (2. Klasse) und 268 Franken (1. Klasse). Halber Preis mit dem Halbtax-Abo oder Swiss Half Fare Card. Die Fahrzeit beträgt rund acht Stunden. Von Chur nach Zermatt rund sechs Stunden.
Weitere Infos unter: www.glacierexpress.ch
Beim nächsten Halt verlassen aussergewöhnlich viele Passagiere den Zug. Wir sind in Andermatt angekommen. Ebenso viele Leute steigen wieder ein, diesmal nur Asiaten. Der Vater einer indischen Grossfamilie erklärt, dass er mit seiner Familie von Luzern komme und nach Zermatt wolle. Freunde der Familie seien schon dort gewesen und hätten einen Besuch des Matterhorns empfohlen. Jeder Reisende in diesem Zug scheint den Berg zu kennen.
Ich frage meinen neuen Freund Sathish, wie bekannt das Matterhorn und die Schweiz in Malaysia seien. Seine Antwort: Die meisten würden das Land von Ferienbildern und den sozialen Netzwerken kennen. Bilder vom Matterhorn seien am weitesten verbreitet, aber auch die Stadt Luzern kennen viele. Die Schweiz gehört laut Sathish zu den Destinationen, die man auf einer Europareise unbedingt sehen müsse. Der junge Malaysier ist von der Zugfahrt mit dem Glacier Express besonders begeistert. Er erklärt, dass er die Fahrt mit «dem langsamsten Schnellzug der Welt» seinen Bekannten weiterempfehlen werde.
Obwohl verlockend, wäre ein Verdauungsschläfchen zum jetzigen Zeitpunkt falsch. Die fantastische Aussicht zu verpassen, wäre ein Frevel. Ich begnüge mich damit, meine Kopfhörer in die Kopfhörerbuchse am Sitz zu stecken und die verschiedenen Kanäle auszuprobieren. Bei den Mundartliedern bleibe ich hängen. Nie sonst würde ich solche Songs hören, doch heute passen sie zur Stimmung. Zur «W. Nuss von Bümpliz» die Gedanken schweifen lassen und aus dem warmen Zug die Eis- und Schneelandschaften betrachten – das ist selbst für einen Schweizer ein besonderes Erlebnis.
Kurz vor Brig kommt noch einmal Aufregung in den Zug: Ein Wägeli mit Schweiz-Souvenirs rollt durch die Waggons. Schweiz-Käppli, Glacier-Express-Schneekugeln und Schlüsselanhänger mit Holzkühen werden angeboten. Für 22 Franken ist auch ein schräg ausgerichtetes Glas mit der Aufschrift Glacier Express erhältlich. Die Mitbringsel mit den Schweizerkreuzen finden bei den Gästen grossen Anklang, für Schweizer ist der Hype um die teuren Andenken schwer nachvollziehbar.
Ich will mit der Reise meiner Freundin einen Traum erfüllen.
(Quelle: Sathish, Tourist aus Malaysia)
Draussen dämmert es, im Wagen ist es ruhig geworden. Die Reise auf Schienen neigt sich dem Ende zu. Fünf Stunden Zugfahrt machen müde. Die Erkenntnisse der heutigen Fahrt: In den Zugabteilen entwickeln sich Gespräche einfacher als an anderen Orten. Der Glacier Express mit seinen internationalen Gästen bietet deshalb die Chance, Menschen von der anderen Seite der Erde in wenigen Stunden kennen zu lernen. Eine Reise mit dem Alpenzug ist diesbezüglich fast ein Kurztrip nach Asien – viele neue Kontakte nimmt man nach Hause mit.
Zwei Tage später tippe ich mich durch die neuen Bilder meiner Instagram-Freunde. Auch Sathish hat etwas Aktuelles hochgeladen, ein Video. Als ich es anschaue, traue ich meinen Augen kaum: Sathish geht vor dem Matterhorn auf die Knie und fragt Sangetha, ob sie ihn heiraten will. Seine Worte aus dem Zug – «ich will mit der Reise meiner Freundin einen Traum erfüllen» – erhalten eine ganz neue Bedeutung.