Mein Mann (48) kann noch so viel Stress haben – er hat immer noch Lust auf Sex. Bei mir ist das anders: Wenn ich zu viel um die Ohren habe, kommt mir Sex als Letztes in den Sinn, was ich zwar selber auch ein bisschen schade finde. Ticken Männer bei Stress anders als Frauen, wenn es um Sex geht?
Ja, das kann man durchaus grundsätzlich mal so sagen. Für viele Männer ist Sex ein gutes Ventil bei Stress: Sie geniessen die körperlichen Begegnungen, die ihnen helfen abzuschalten, und die tiefgehende Entspannung nach dem Höhepunkt. Ihre Entspannung ist grundlegender als bei Frauen, was auch der Grund dafür ist, warum viele Männer nach dem Sex recht schnell einschlafen.
Die meisten Frauen haben dagegen, wenn sie gestresst sind, weniger oder gar keine Lust auf Sex. Sie sind dann quasi «im Kopf» – noch mehr als sonst schon – und haben Mühe, sich fallen zu lassen. Sie denken an das, was noch getan werden muss, und überlegen, wie sie alles schaffen können.
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Die weibliche Lust ist meistens nicht spontan, sondern «responsiv»: Sie braucht Zeit, Einstimmung, das Gefühl der Verbundenheit durch persönlichen Austausch, die Gewissheit, unterstützt zu werden, eine stimmige Atmosphäre, körperliches Spüren – also einen guten Boden, damit Lust aufkommen und wachsen kann.
Kein Wunder, dass Männer manchmal überfordert sind, zumal schon Sigmund Freud meinte: «Die grosse Frage, auf die ich keine Antwort gefunden habe, trotz dreissig Jahre Erforschung der weiblichen Seele, ist: Was will die Frau?»
Weibliche Lust verläuft nicht linear, sondern ist durch ein Auf und Ab gekennzeichnet und sehr sensibel oder störungsanfällig. Stimmen im Nebenzimmer, körperliche Missempfindungen, Konflikte oder Stress – können Frauen schnell ablöschen.
Das spontane Begehren der Männer ist unabhängiger von äusseren Bedingungen: Ist die Erregung erst einmal da – und das ist aufgrund vieler verschiedener kleiner Reize möglich –, sucht sie Erfüllung und kann sich, ohne sich schnell stören zu lassen, bis zum Höhepunkt steigern. Der Verlauf der männlichen Lust wird als linear beschrieben und erscheint daher unkomplizierter. Aber keine Art des Begehrens ist besser als die andere – beide haben ihren Sinn: Es ist durchaus plausibel, dass das spontane Begehren sich entwickelt hat, damit Männer ihre Gene verbreiten. Und dass das responsive Begehren den Sinn hat, dass sich Frauen Väter für ihre Kinder suchen, die fürsorglich sind, damit die Nachkommen gute Chancen haben.
Wir funktionieren natürlich nicht nur nach diesem Programm. So gibt es auch vertauschte Rollen bei Männern und Frauen oder Paaren, bei denen beide ein responsives Begehren haben oder beide – was eher selten ist – ein spontanes.
Fast alle Paare müssen lernen, mit unterschiedlichem Begehren und unterschiedlichen sexuellen Bedürfnissen umzugehen. Für die Person mit dem responsiven Begehren ist es hilfreich, herauszufinden, was sie braucht, um Lust bekommen und erhalten zu können.
Manches liegt in den Händen des Partners – Wäsche aufhängen zum Beispiel –, und für anderes ist die Frau oder der Mann mit dem responsiven Begehren selbst verantwortlich.
* Dipl.-Psychologin, Paar- und Sexualtherapie, Bern