Ratgeber
Bekommt meine Tochter einen Vaterkomplex?

Unsere achtjährige Tochter ist sehr auf mich, ihren Papa, fixiert. So will sie auch die ganze Zeit mit mir schmusen, Küsschen geben etc. Ich finde das natürlich sehr schön. Aber ich habe auch Bedenken, ob dies zu extrem wird. Könnte sie einen Vaterkomplex davontragen, der sie später zum willfährigen «Opfer» älterer Männer macht?

Dr. phil. Josef Jung*
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Zuerst zum «Vaterkomplex»: Den Begriff prägte Sigmund Freud bei seinen Überlegungen zum «Ödipuskomplex». Vereinfacht gesagt geht es dabei um die Beziehungsgestaltung im Dreieck Vater-Mutter-Sohn. C.G. Jung empfahl als Gegenstück, also zur Dreiecksbeziehung Vater-Mutter-Tochter, den Begriff Elektrakomplex. Beide griffen auf die griechische Mythologie zurück. In Sophokles Drama tötet Ödipus seinen Vater und heiratet dann seine Mutter, ohne dass er vorerst von deren Identität weiss. In Sophokles’ Tragödie «Elektra» hilft diese ihrem Bruder, ihre Mutter und ihren Stiefvater zu ermorden.

Josef Jung.

Josef Jung.

Interessanterweise wird heute in der Öffentlichkeit, in den Medien oder in Sachbüchern der Begriff «Vaterkomplex» oft auf die Beziehung der Tochter zum Vater und dann im Erwachsenenalter zu den Männern verwendet, obwohl Freud das Gegenteil, nämlich die Beziehung des Sohnes zu seinen Eltern damit beschrieb. Aber verlassen wir nun die akademische Diskussion.

Balance Vater und Mutter

Dass Ihre Tochter eine gute Beziehung zu Ihnen hat, freut Sie natürlich. Ob dies übertrieben ist, misst sich auch an der Beziehung der Tochter zur Mutter. Damit sind wir wieder beim Dreiecksverhältnis. Ist dieses seit längerer Zeit in Schieflage, nach dem Motto «böse Mami – lieber Papi» oder einigermassen in der Balance? Ist der Tochter klar, dass Mutter die «Königin» ist, gleichberechtigt neben dem Vater «König», und sie selber «nur» die Prinzessin? Oder ist eine Palastrevolution im Gange, wo die Tochter die Mutter vom Thron stossen will?

In der Psychologie gibt es den Begriff der Triangulierung, um die Entwicklung des Kindes von einer ausschliesslichen Zweierbeziehung – als Baby oft zur Mutter – zu jemandem Dritten zu beschreiben. Diese Veränderung verlangt von den Eltern eine feinfühlige Abstimmung. Wenn diese Triangulierung gelingt, lernt das Kind eine wichtige Beziehungskompetenz. Dazu gehört einerseits Halt, aber auch eine realitätsangemessene Begrenzung, zu der eine klare Generationengrenze gehört. Gemeint ist, dass die Tochter weiss, wer die «Königin» ist. Die Auswirkung ist auch eine für die Tochter möglicherweise kränkende, aber nötige Zurückweisung auf ihren Platz als «Prinzessin».

Dann steht einer guten Vater-Tochter-Beziehung, die auch ausschliessliche Vater-Tochter-Zeiten beinhalten kann, nichts im Weg. Wenn sich Ihre Tochter so in der Beziehung zu Ihnen als Eltern gehalten – im doppelten Sinne von unterstützt und begrenzt – erlebt, erträgt es auch ein zeitweises Übermass an Bezogenheit zu Ihnen als Vater. Wenn Ihnen dies zu viel wird, liegt es an Ihnen, hier eine Begrenzung auf ein «gesundes» Mass durchzusetzen.

Wie Ihre Tochter später Beziehung zu Männern gestaltet, unterliegt noch vielen weiteren Faktoren als nur der Beziehung zum Vater. Mit der Herstellung von klaren Grenzen schaffen Sie aber schon mal günstige Voraussetzungen dafür.

* Dr. phil. Josef Jung, Hitzkirch, Eidg. anerkannter Psychotherapeut www.psychotherapie-jung.ch.