Kulinarischer Geheimtipp
Gebt uns Saures! Warum wir zum Apero Essig statt Wein trinken

Essig geht nicht nur im Salat. Wie grossartig es ist, ihn zu trinken, kann man auf Schloss Salenegg in Maienfeld lernen und erfahren.

Christian Berzins
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Vier Sorten Maienfelder Trinkessig: Apfel, Marc, Holunder und Zimt.

Vier Sorten Maienfelder Trinkessig: Apfel, Marc, Holunder und Zimt.

Severin Bigler / CH Media

Seit der römische Soldat Stephaton vor fast 2000 Jahren Jesus am Kreuz einen Essigschwamm reichte, ist Trinkessig in aller Munde. Das Getränk fand alsbald vierfach Aufnahme im berühmtesten Buch der Welt, wird noch heute unter Bibelgelehrten diskutiert.

Typisch ist die Reaktion der Menschen, ja der Kinder, wenn sie das erste Mal davon hören: «Wie gemein, dem Heiland Essig zu geben!», hört man dann. Doch später lernt man, dass saurer Wein oder verdünnter Essig damals ein normaler Durstlöscher war.

Damals?

Heute hat niemand mehr Angst vor Essig, denn die Welt ist mittlerweile von verzuckerten «Aceto di Modena»-Varianten überschwemmt worden. Die Emilia-Romagna-Reiseleiter erzählen süffisant lächelnd, dass in Modena bei der Geburt eines Kindes die Leute ein Löffelchen eines Balsamicos trinken, dessen Flasche 20 000 Franken kostet.

Ganz regional

Umso schwieriger, wenn jemand sauren Essig produziert und den dann auch noch zum Trinken anbieten will. Um ein solches Produkt zu finden, muss niemand nach Italien fahren, man kann in der Schweiz, wahrscheinlich gar in der Region bleiben. In Hitzkirch LU bei Brunners stellen sie einen famosen Balsamico her. Oder in Maienfeld.

Auf das Schloss Salenegg wird Wein und Essig produziert.

Auf das Schloss Salenegg wird Wein und Essig produziert.

Severin Bigler / CH Media

Und keine Angst: Eine Flasche Essig muss nicht 20 000 Franken kosten. Aber billig ist der Maienfelder Essig nicht, da wir einen qualitativ hochstehenden trinken wollen. Es kommt nun mal auf die Zutaten an – und die Zeit, die man für eine sorgfältige Verarbeitung braucht: Nehme ich eine Plörre oder richtig guten Wein als Grundlage? Und habe ich Zeit und Platz, meinen Essig zwei Jahre im Eichenfass zu lagern? In Maienfeld haben sie das.

Wer im Heidi-Dorf nach einem kurzen Aufstieg in die Mauern von Schloss Salenegg tritt, wundert sich auch nicht, wenn er mit seiner Nase den Louvre der Geschmacksrichtungen durchschreitet: Es ist, als rieche er an Mona Lisa, als ob man lernt, wie Géricaults Farben auf der Zunge schmecken.

Wir sprechen in Metaphern, gewiss, werden möglicherweise verdächtig, beim Schreiben zu viel des famosen ­Pinot noir, der ebenfalls auf Salenegg produziert wird, getrunken zu haben. Nichts davon.

Es ist 9.30 Uhr, und vor uns stehen im Torkel des Schlosses 18 Essigsorten bereit. Es ereignen sich alsbald keine plumpen Geschmacksexplosionen, vielmehr tun sich fein ausgereifte Geschmacksrichtungen auf.

Sagen wir «trinken», meinen wir einen oder zwei Zentiliter

Auf einen breiten Degustationslöffel sprüht Sonja Boppart, Administratorin auf Schloss Salenegg, jeweils einen Hauch Flüssigkeit, und bald riecht es nach Boskop, Mirabelle, Safran, Zwetschge oder unser aller Bärlauch. Alle Sorten kosten gleich viel: Eine Zwei-Deziliter-Flasche 25, die Bordeaux-Flasche mit sieben Dezilitern 45 Franken.

Man muss kein Zauberlehrling sein, um sich auszumalen, was passiert, wenn man diese konzentrierten Gerüche geschickt mit neutraler Flüssigkeit mixen würde. Und wir reden nicht von Salatsaucen – aber natürlich erreichen auch sie damit ungeahnte Geschmacksnuancen.

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Aber vor allem lassen sich mit den Geschmackssorten spannende Getränke erschaffen. Allerdings stehen im ­Salenegger Sortiment auch vier Trinkessigsorten. Und wie der Name sagt, werden sie hergestellt, um getrunken zu werden, da der Säuregehalt bei 3,5 Prozent oder gar darunter liegt.

Man trinkt ihn nicht bierglasweise, aber als kleiner Aperitif oder flüssiger Zwischengang zur Neutralisation bei einem Menü machen sich ein oder zwei Zentiliter gut. Oder warum nicht ein Schuss in ein Glas Prosecco? Und besonders reizvoll: Mit den Trinkessigsorten lassen sich alkoholfreie Menübegleitungen kreieren.

Der Salenegg-Klassiker ist der «Deli Apfel». Er basiert naturgemäss auf Apfelessig und wird mit eingekochtem Apfelsaft verfeinert. Der «Deli Marc» hingegen ist ein Weinbrandessig, der mit Vanille ver«süsst» wird. Solcherlei macht sich auch auf einem Dessert als leichter Kontrast gut, ebenso die zwei nächsten, die wir sogleich auf dem Löffel haben: Der «Deli Holunder» und der «Deli Zimt».

Der Torkel beziehungsweise der Verkaufsraum auf Schloss Salenegg.

Der Torkel beziehungsweise der Verkaufsraum auf Schloss Salenegg.

Severin Bigler / CH Media

«Nicht so typisch Essig, was?», sagt Frau Boppart lächelnd. Als Zückerchen – oder zur Verwirrung? – wird uns ein Probiergutsch des Blauburgunderbalsams vorgesetzt und wir werden erstmals an die berühmten Essigvarianten aus Modena erinnert. 10 Jahre lang war er im Fass und beruht auf einem Rezept aus dem 17. Jahrhundert, das im Schloss gefunden wurde. Ob man damals schon Essig herstellte, weiss man aber nicht.

Mit der professionellen Essigproduktion begann Helene von Gugelberg, deren Familie seit 1654 das Schloss besitzt, vor 20 Jahren. «Aus Zeiten der Selbstversorgung, also der Zeit meines Grossvaters und davor, haben wir einen Obstgarten mit nahezu 90 Bäumen. Da wachsen Apfel, Birne, Quitte, Mispel, Zwetschge, Mirabelle und vieles mehr. Damals lebten mit den Familienmitgliedern und Mitarbeitenden über 25 Personen vom eigenen Anbau. Heute sind wir noch vier Personen, die vom Betrieb versorgt sein wollen. Also war da die Frage: Was machen mit dem ganzen Obst?» Die einfache und erfreuliche Antwort lautete: Essig.

Trinkessig ist gesund, gewiss, aber er ist vor allem Genussmittel

Von Gugelberg hatte das Glück, in den Anfängen einen Kellermeister zu haben, der ebenfalls experimentierfreudig war und der vor allem keine Angst vor Essigbakterien hatte. «Nur wenn ich von der Veredelung des Weines zu Essig sprach, kräuselte sich seine Stirn», so von Gugelberg. Heute gäbe es kaum eine Frucht, die man auf dem Schloss nicht zu Wein vergäre, um ihn anschliessend in Essig zu verwandeln. Insgesamt werden 20000 Liter Essig pro Jahr hergestellt.

Helen von Gugelberg nimmt eine Essigprobe.

Helen von Gugelberg nimmt eine Essigprobe.

Severin Bigler / CH Media

Es sind nicht die Hymnen auf die heilenden Kräfte, die uns in kurzer Zeit zum Essigtrinker gemacht haben, sondern es ist der Geschmack: der Reiz des Süss-sauren auf der Zunge und im Gaumen, dieses Entfachen eines kühnfremden Geschmacks. Dass Essig die Verdauung ermuntert, meinetwegen. Und es lassen sich auch Vitamine, Mineralstoffe, Spurenelemente und Enzyme im Essig festmachen. Schön und gut. Aber in der Maienfelder Qualität ist Essig vor allem ein famoses Genussmittel.

Alle Essigsorten können täglich im Torkel von Schloss Salenegg degustiert und gekauft werden. Bei der «Delikaten Entdeckungsreise» wird in zweieinhalb Stunden degustiert und mit Essig gekocht. Informationen: www.schloss-salenegg.ch