Das Gehirn kompensiert sich selbst

In Wien hat er das Wüten der Nazis erlebt und sich dann der Erinnerungsarbeit zugewandt. Jetzt zieht der Nobelpreisträger Eric Kandel Bilanz und erklärt, was das Hirn über den Menschen verrät.

Rolf App
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Kreativität muss befreit werden. Denn die rechte, kreative Hirnhälfte wird von der linken, rationalen Hemisphäre gebremst. (Bild: PD)

Kreativität muss befreit werden. Denn die rechte, kreative Hirnhälfte wird von der linken, rationalen Hemisphäre gebremst. (Bild: PD)

Den 9. November, diesen 9. November, wird Eric Kandel nie vergessen. Er ist neun Jahre alt, er ist zu Hause, lautes Hämmern an der Tür schreckt die Familie auf. Vor der Tür stehen Polizisten, «sie befehlen uns, ein paar Sachen zusammenzupacken und die Wohnung zu verlassen». So schildert der heute 88-Jährige in seinen Erinnerungen, die unter dem Titel «Auf der Suche nach dem Gedächtnis» erschienen sind, die Szene, die sich ihm eingebrannt hat. Der Vater ist verschwunden, der Rest der Familie tief verängstigt.

Wien im Jahr 1938, das ist für Juden ein hochgefährlicher Ort. Der Vater kommt frei, weil er nachweisen kann, dass er am Ersten Weltkrieg teilgenommen hat, die Wohnung wird geplündert von den braunen Horden. Denn nirgendwo wird Hitler mit derart grosser Begeisterung gefeiert wie in der Weltstadt Wien.

Niemals vergessen: Das ist sein Motto

Familie Kandel ahnt jetzt, was es geschlagen hat im nationalsozialistisch gewordenen Österreich. Und sie hat Glück. Nach einem «demütigenden und angsteinflössenden» Jahr schaffen sie es mit Hilfe von Verwandten in die USA, wo das Leben von vorn beginnt – und doch geprägt bleibt von dieser frühen Erfahrung, die der neunjährige Eric da gemacht hat. «Ich bin überzeugt, dass mein späteres Faible für den menschlichen Geist auf mein letztes Jahr in Wien zurückgeht», erklärt er.

«Nach dem Holocaust lautete ein Motto der Juden ‹Niemals vergessen!›, wachsam sein gegen Antisemitismus, Rassismus und Hass. Meine wissenschaftliche Arbeit widmet sich den biologischen Grundlagen dieses Mottos: den Prozessen im Gehirn, die uns zur Erinnerung befähigen.»

Im Jahr 2000 erhält er für diese Arbeit den Nobelpreis für Medizin – als Amerikaner, auch wenn er sich immer ein Herz für Österreich bewahrt. Allerdings vergisst er nicht, was geschehen ist. Als ihm der österreichische Bundespräsident gratuliert und ihn nach Wien einlädt, wünscht Kandel sich ein Symposium zur Frage, warum die Österreicher sich so willig in Hitlers Dienste gestellt haben. Es ist eine Frage, die auch Sigmund Freud interessiert hätte, der unweit der Kandels seine Praxis hatte.

Freud: Der Name fällt oft, auch in Eric Kandels neuem Buch «Was ist der Mensch?», in dem er einen interessanten Weg einschlägt. Anhand der Störungen des Gehirns wie wir als Menschen beschaffen sind. Mit andern Worten: Er vollbringt, wovon Freud geträumt hat. Denn der hatte sich stets gefragt, wo und wie sich Psychisches in unserem Körper niederschlägt. Die Mittel dazu hatte er noch nicht in der Hand.

Wo Sexualität und Aggression sich treffen

Dass uns Erinnerungen verfolgen können, ist auf jene Gedächtnisprozesse zurückzuführen, die Kandel selber erforscht hat. Und bestätigt hat die Hirnforschung auch eines von Freuds kühnsten Modellen: Dass sich unter dem Bewusstsein der Raum des Unbewussten erstreckt, der unsere bewussten Entscheidungen beeinflusst und anderen, instinktiven Gesetzmässigkeiten folgt. So hat sie biologische Grundlagen gefunden für zwei Triebe, die Freud beobachtet hat – Sexualität und Aggression. An einem Ort überlappen sie sich sogar, und das, erklärt Kandel, «ist vielleicht die Erklärung dafür, warum diese beiden Triebe so leicht verschmelzen können».

Eric Kandel ist im selben Quartier wie Sigmund Freud aufgewachsen, was ihn bis heute prägt. (Bild: pd)

Eric Kandel ist im selben Quartier wie Sigmund Freud aufgewachsen, was ihn bis heute prägt. (Bild: pd)

Bestätigt hat sich auch, was man schon früh vermutet hat: dass einzelne Regionen des Gehirns sich auf unterschiedliche Prozesse spezialisiert haben. Gut zeigt sich dies auf dem Feld der Kreativität.

Kreativität ist uns angeboren, aber nicht immer entfaltet sie sich. Manchmal aber blühen gerade Menschen auf, die unter schweren Störungen leiden. Wie Chuck Close, von dem Eric Kandel ausführlich erzählt. Er hat eine Lese- und Rechtschreibschwäche. Und er ist gesichtsblind. Das heisst, er kann keine Gesichter erkennen. Aber er kann sie erstaunlicherweise zeichnen. Und zwar hochpräzis, indem er sie mit enormem Fleiss in kleine Feldchen unterteilt. Das ist, wie er selber erklärt, für ihn der Versuch, einer Welt, die er nicht versteht, einen Sinn zu geben.

Was Close tut, findet seine Erklärung im Gehirn. Als Erster hat John Hughlings Jackson im 19. Jahrhundert erkannt, dass die beiden Hirnhälften unterschiedliche Aufgaben erfüllen. Die linke Hemisphäre ist für logische Funktionen wie Sprache und Zahlen zuständig, die rechte fürs Kreative. Jackson vermutete, dass beide Hälften sich gegenseitig hemmen.

Das Gehirn macht jede neue Erfahrung mit

Chuck Closes Lese- und Rechtschreibschwäche zeigt, dass die linke Hemisphäre geschädigt ist. Die rechte, kreative Hälfte dominiert. Und sie vollbringt etwas Faszinierendes. Sie sucht seine Gesichtsblindheit zu kompensieren.

Dies ist die wohl beeindruckendste Eigenschaft des Gehirns: jene Plastizität, die uns nicht nur die Anpassung an jede neue Situation ermöglicht. Sondern die uns ein ganz individuelles Gehirn schenkt. Frühe Erfahrungen haben darin ein besonderes Gewicht – wie Eric Kandels Erschrecken angesichts der Nazis, das er nie mehr vergessen hat.

Eric Kandel: Was ist der Mensch? Störungen des Gehirns und was sie über die menschliche Natur verraten, Siedler Verlag, 367 S., Fr. 39.-