In der «Jung & Alt»-Kolumne schreibt unsere Autorin Samantha Zaugg alternierend mit Ludwig Hasler, Philosoph und Publizist, 76. Diese Woche erzählt Zaugg von der grössten Ratte der Alpennordseite
Lieber Ludwig
Du hast gefragt, worüber ich lache. Ich will ein Beispiel nennen. Letztens hab ich nämlich etwas Lustiges erlebt.
Ich sass bei mir zu Hause am Fluss. Hab das Homeoffice nach draussen verlegt und tippe am Laptop. Da sehe ich auf der anderen Seite des Flusses die grösste Ratte, die mir je begegnet ist. Sie ist so gross, dass ich zuerst denke, es sei ein Biber. Sie hat einen dichten Pelz, mächtige Krallen und einen borstigen Schwanz. Trotz ihrer enormen Grösse hüpft sie leichtfüssig durchs Brombeergestrüpp. Stromert am heiter helllichten Tag am Fluss herum, als wäre nichts.
Gebannt starre ich zum anderen Ufer hinüber. Ich versuche still zu sitzen. Scheinbar hat die Ratte mich nicht bemerkt. Sie steigt die Böschung hinunter, setzt sich auf eine Sandbank und beginnt ihre Pfoten im Fluss zu waschen. Vorsichtig klettere auch ich weiter hinunter, um sie besser beobachten zu können. Plötzlich ein Knacken, eine Wurzel gibt nach, schon schlittere ich auf dem Hosenboden die Böschung hinab und stürze in den Fluss.
Zum Glück habe ich mir nicht wehgetan. Aber die Ratte hat mich nun bemerkt. Doch statt fortzurennen, schaut sie mich an. Undurchdringlich starrten ihre Knopfaugen zu mir hinüber. Ohne mich aus den Augen zu lassen, steigt sie ins Wasser und schwimmt auf mich zu. Ich sitze immer noch verdattert da, bin wie eingefroren. Was ist mit dieser Ratte los? Hat sie Tollwut? Oder noch Schlimmeres? Vor lauter Schreck kann ich mich nicht bewegen. Die Ratte ist unterdessen zu mir herübergeschwommen, hüpft aus dem Wasser auf mein Knie und schaut mich an. «Hallo», sagt die Ratte, «hast du Feuer?»
«Nein, ich bin Nichtraucherin», sage ich. Aber ich wohnte gleich ums Eck, und zu Hause könne ich Streichhölzer holen. «Gut», sagt die Ratte, «ich komme mit.» Wir klettern aus dem Fluss und gehen zu meiner Wohnung. Die Ratte und ich sind ganz nass. Ich rubble sie mit einem Frottiertuch trocken. Während ich frische Sachen anziehe, hüpft sie aufs Bett, legt sich aufs Kissen, kratzt sich am Bauch und beginnt eine Zigarette zu drehen.
Als die Ratte aufgeraucht hat, sagt sie: «Lass uns in den Frohsinn gehen.» Wir gehen also in die Beiz, die Ratte setzt sich an den Stammtisch, bestellt ein grosses Bier und beginnt zu jassen. Die Ratte jasst wie der Teufel und gewinnt immer. Köbi ruft: «Die Ratte bescheisst!» Da wird sie fuchsteufelswild, springt auf den Tisch, zerschlägt ein Glas und bedroht den Köbi damit. Die Ratte und ich werden aus der Beiz geworfen. Macht nichts. Sie hat eine Flasche Schnaps gestohlen, die trinken wir aus, ziehen durchs Quartier und singen Räuberlieder.
Was für eine Geschichte! Leider muss ich sagen: Es ist nicht ganz alles wahr. Trotzdem ein guter Schwank, oder?
Samantha